Illusion von Kontrolle: Gefahr und Gunst von Verschwörungstheorien

Für große Ereignisse große Erklärungen zu suchen, ist vielen Menschen ein Bedürfnis. Der Auftritt des neuartigen Corona-Virus hat einige solcher Theoretiker auf den Plan gerufen. Gerade im Gesundheitsbereich sind sie weitverbreitet und verstärken dort auch das Misstrauen gegenüber Medizinern. Wie sie erzeugt, entzaubert und auch nützlich werden könnten, hat sich medinlive angesehen.

Claudia Tschabuschnig/Agenturen

In Bedrohungsszenarien geben sich die Reichen, Mächtigen und Einflussreichen die Klinke in die Hand, um unter Ausschluss der Öffentlichkeit daran zu werken, die Welt aus den Angeln zu heben – solche Bilder werden mit viel Detailliebe von Verschwörungstheoretikern gezeichnet und im großen Stil unter die Bevölkerung gebracht.

Zahl der Anhänger steigt

Das zeigt Wirkung: In den USA sollen Umfragen zufolge fast 30 Prozent der Bevölkerung an Verschwörungstheorien glauben. Die Studienlage ist dünn, aber auch in Österreich zeigt sich ein ähnliches Bild: Eine Statista Umfrage aus dem letzten Jahr (unter 501 Befragten) ergab, dass etwa 30 Prozent der Österreicher glauben, an Verschwörungstheorien sei meist auch ein Funken Wahrheit dran sei. Satte 62,7 Prozent der Befragten räumten der Anschauung, dass das Corona-Virus als biologische Waffe entwickelt und freigesetzt wurde, einen gewissen Wahrheitsgehalt ein.

Rund die Hälfte der Befragten konnten sich vorstellen die Corona-Krise sei ein Vorwand, um Freiheitsrechte dauerhaft einzuschränken. Ebenso viele konnten auch der Idee, die Pandemie nutze Geheimgesellschaften, um eine autoritäre Weltordnung zu errichten, etwas Wahres abgewinnen. Eine weitere zum selben Zeitraum durchgeführte Statista Umfrage ergab, dass etwa 32 Prozent der 1.000 Befragten glauben, es gehe bei den Maßnahmen gegen die Virus-Pandemie um etwas ganz anderes als das, was Politik und Medien sagen.

Details: Österreich; 31. Juli bis 07. August 2020; 501 Befragte; 14-75 Jahre; repräsentativ für die österreichische Bevölkerung; Computergestützte Webinterviews (CAWI), © Statista 2021

Illusion von Kontrolle

Der Glaube an Verschwörungstheorien, auch Verschwörungsmentalität genannt, gilt unter Psychologinnen und Psychologen als ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal. Menschen mit diesem Attribut hätten eine starke Tendenz, an Verschwörungstheorien zu glauben und denken, dass die Welt von verborgenen Mächten beherrscht wird. „Oft neigen jene Menschen zu Verschwörungstheorien, die das Gefühl haben, wenig Kontrolle über ihr Leben zu haben“, erläutert der Psychologe Roland Imhoff gegenüber „spektrum“. Verschwörungstheorien würden dieses Empfinden kompensieren und den Betroffenen eine gewisse Kontrolle zurückgeben. An Verschwörungen könne man schließlich etwas ändern – man müsste ja nur wenigen Schurken das Handwerk legen. Bei diesem Verschwörungstypus spiele Alter oder Intelligenz keine Rolle, meint Imhoff, wohl aber die Bildung– nicht „weil gebildete Menschen per se gefeiter sind, sondern weil geringe Bildung häufig verquickt ist mit geringeren Chancen, aktive Kontrolle über seinen Lebensweg ausüben zu können“, so der deutsche Psychologe.

Krisen (wie die Corona-Pandemie) können für viele Menschen einen Kontroll­verlust bedeuten. „Eine Verschwörungs­erzählung sorgt hier für Struktur“, sagt die Sozialwissenschafterin Pia Lamberty gegenüber der „ZEIT“.  „Diejenigen, die daran glauben, haben ein Feind­bild, auf das sie ihre Ängste projizieren können. Das nimmt der Situation, zumindest scheinbar, die Bedrohlichkeit“, so Lamberty.

Einfluss auf gesundheitliche Entscheidungen

Auffallend ist, dass besonders viele Verschwörungstheorien im Gesundheitsbereich kursieren und dort Einfluss auf grundlegende Entscheidungen haben können. Mehrere Studien haben einen Zusammenhang zwischen Verschwörungsmentalität und der Bevorzugung alternativer Heilmethoden bestätigt. Im Falle der Corona-Pandemie steht der Glaube an Verschwörungstheorien einer US-Studie zufolge auch im Zusammenhang mit der Ablehnung eines verfügbaren COVID-19-Impfstoffes sowie dem Einhalten vorgeschriebener Verhaltensweisen, beispielsweise dem Tragen von Masken, wie Forscher des Annenberg Public Policy Center herausfanden.

Deutsche Forscher um Lamberty und Roland Imhoff vom Psychologischen Institut der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz stellten fest, dass eine Verschwörungsmentalität beeinflussen kann, was Patientinnen und Patienten für die eigentliche Ursache einer Erkrankung halten, was sie als Anfangssymptom und physiologische Reaktion ansehen und wen oder was sie für ihre Behandlung auswählen.

Misstrauen gegen Mächtige

Die deutschen Forscher erkannten überdies, dass ein generelles Misstrauen gegenüber Machtstrukturen auch medizinische Entscheidungen beeinflusst. „Alles, was mit Macht in Verbindung gebracht wird, wie zum Beispiel die Pharmaindustrie, wird von Verschwörungstheoretikern sehr skeptisch beurteilt“, erklärt Lamberty in einem Beitrag für das Fachmagazin Social Psychology. Dazu zählen auch Mediziner und das Gesundheitssystem insgesamt. Im Praxisalltag kann dies eine Herausforderung darstellen. Zudem gibt es bisher keine offiziellen Handlungsempfehlungen für diese Problematik, wie Experten bemängeln. Auch fehle es an wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen zum Umgang mit Verschwörungstheoretikern.

Generell wird häufig geraten, im Umgang mit verschwörungsgläubigen Menschen viele Fragen zu stellen, etwa woher eine Information stammt und wie vertrauenswürdig die Quelle ist. Da im medizinischen Praxisalltag dafür oft für derart ausführliche Gespräche die Zeit fehlt, raten Experten dazu, über konsistente Aufklärung das Glaubensbild der Patientinnen und Patienten über Sitzungen hinweg zu beeinflussen. 

Besonders herausfordernd kann die Situation für Mediziner etwa werden, wenn Eltern einem Verschwörungsmythos anhängen und deshalb ihre Kinder nicht sachgemäß behandeln lassen. In solchen Fällen sollten Mediziner versuchen, zu verstehen, was der Verschwörungsglaube für die Eltern bedeutet und welche Ängste sich dahinter verbergen können, raten Psychologen.  

Instrumentalisierte Mediziner

Doch Verschwörungstheorien können noch andere Risiken nach sich ziehen. Der Studie der zuvor genannten deutschen Wissenschafter zufolge geht politischer Extremismus und Gewaltbereitschaft mit dem Glauben an Verschwörungen einher. Und: Je stärker jemand an Verschwörungstheorien glaubt, desto weniger kann die Person die Qualität von Informationsquellen bewerten. Das bedeutet: Für Verschwörungstheoretiker hat eine Information auf YouTube genauso viel Wert wie die Verlautbarungen des Robert Koch-Instituts, so Imhoff.

Schwierig wird es auch, wenn medizinische Experten selbst in die Verschwörungsfalle tappen. Der ärztliche Berufsstand läuft dabei nämlich das Risiko einer Instrumentalisierung. „Verbreiten Ärzte Verschwörungserzählungen oder Falschinformationen, werden sie als nützliche Unterstützer der Szene gerne aufgenommen. Immer wieder wird dann explizit auf die medizinische Ausbildung verwiesen – natürlich nur bei jenen Ärzten, die die jeweils eigene Meinung vertreten“, so Lamberty. Der Arzt werde so eine maßgebliche Autorität, während Experten, die sich seit Jahren intensiv mit der Materie beschäftigen und eine gegenteilige Meinung vertreten, zum Feindbild werden.

Ähnliche Funktionsweisen wie Glaube

Dass Verschwörungstheorien oft schwer zu entzaubern sind, liegt auch daran, dass sie ähnlich wie Glaubensvorstellungen (etwa wie bei Sekten) jedes Argument im Sinne ihres Glaubenssystems umdeuten. In dem Sinn spricht der deutsche Mediziner Thomas Grüter vom „Verschwörungsglauben”. Seine Theorie: Anfangs besteht ein Verdacht, der durch Ereignisse bestätigt wird und so zur Verschwörungstheorie wird. Meist knüpfen Verschwörungstheorien zudem an etwas an, das mit der Realität vereinbart werden kann – das macht sie glaubhaft.

Ereignisse in Verbindung zu setzen, ist den Menschen angeboren. „Wir sind evolutionär darauf getrimmt, Muster zu erkennen und Verbindungen zu ziehen. Wenn jemand eine Frucht isst und einen Tag später stirbt, ist es sinnvoll, einen Kausalzusammenhang herzustellen, auch wenn man den noch nicht beweisen kann“, beschreibt Kulturwissenschaftler Michael Butter kürzlich im „circero“.

Generell weisen Verschwörungstheorien häufig ähnliche Merkmale auf: Neben dem Vorherrschen einer vermeintlich geheimen Verschwörung, wird generell suggeriert, dass es keine Zufälle gibt, alles einen kausalen Zusammenhang hat, der durch „Beweise“ gestützt wird. Es herrscht Schwarz-Weiß-Denken vor, die Welt wird in Gut und Böse unterteilt und bestimmte Menschen oder Gruppen werden zu Verursachern erklärt.

Suche nach monokausaler Erklärung

Die Suche nach Verantwortlichen ist beinahe so alt wie die Menschheit selbst. Besonders zu Pandemie-Zeiten hat sie Hochkonjunktur. Schon als die Pest in Europa wütete, habe man nach einem Verursacher der Krise gesucht. Damals waren die Juden Zielscheibe, später auch die Freimaurer, denen das Streben nach Machtübernahme unterstellt wurde. Auch damals ging es darum: Je größer ein Phänomen, umso größer die Erklärung. Im Fall der Corona-Pandemie: Dass eine einzige Fledermaus in einem fernen Land die ganze Welt in eine globale Krise stürzen kann, kann für viele beängstigend oder irritierend wirken.

Ursprünglich in Europa entstanden, wurde das Konzept der Verschwörungstheorie von dort aus in alle Welt getragen. Im 20. Jahrhundert kamen vermehrt Verschwörungsmythen aus den USA. Der Mythos von der Mondlandung, die nur in einem Filmstudio inszeniert worden sein soll, sowie die Hintergründe des Mordes von John F. Kennedy zählt zu den bekanntesten. Mit dem Internet nahm die Verbreitung von Verschwörungstheorien erst richtig Fahrt auf.

Positiver Einfluss kruder Theorien

Doch warum werden Theorien überhaupt verbreitet? Nicht allen, allerdings den meisten, Erstellern und Verbreitern geht es darum, politische oder ökonomische Ziele zu erreichen, manchen geht es bloß darum eine Bühne zu finden. Nicht nur Geld regiert die Welt, sondern auch Aufmerksamkeit, um es plakativ zu sagen. Ein Beweggrund, Verschwörungserzählungen zu verbreiten, ist wohl ein gesteigertes Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Man verfügt scheinbar über eine Art Geheimwissen – während andere als „Schlafschaf“, „Systemling“ oder gleich als Teil der Verschwörung herabgesetzt werden, beschreibt Lamberty im „medical tribune“. Der Verschwörungsglaube findet sich erfahrungsgemäß stärker bei Männern.

Verschwörungstheorien haben aber auch gute Seiten: Manche Forscher schreiben ihnen einen positiven Einfluss zu, weil das ständige Hinterfragen einer offiziellen Version die Regierenden zu mehr Transparenz zwingt.

Die Kunst der Widerlegung

Eine Verschwörungstheorie zu widerlegen, kann einem Kunststück gleichen. Ein Vorschlag zur Entzauberung könnte dieser Ablauf sein:

  1. Betonen Sie zuerst die Fakten (nicht die Falschmeldung) und überladen Sie das Gegenüber dabei nicht mit Informationen – wenige Argumente sind stärker als viele.

  2. Wenn Sie das zu widerlegende Gerücht erwähnen, platzieren Sie zuvor eine Warnung, damit das Gegenüber klar weiß, dass als Nächstes eine Falschinformation folgt.

  3. Da ein ausgeräumtes Gerücht eine Lücke hinterlässt, muss eine alternative Erklärung her, präsentieren Sie daher eine Alternative.

Literatur:

Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen - Katharina Nocun, ‎Pia Lamberty · 2020

Themenseite Statista Coronavirus und Verschwörungstheorien

Studien zum Einfluss von Verschwörungstheorien auf medizinische Entscheidungen:

Studie: Beliefs in COVID-19 conspiracy theories predict lower level of compliance with the preventive measures both directly and indirectly by lowering trust in government medical officials

Studie: Belief in conspiracy theories is a barrier to controlling spread of COVID-19, Annenberg Public Policy Center 

Studie: Lambery, Imhoff: A Bioweapon or a Hoax? The Link Between Distinct Conspiracy Beliefs About the Coronavirus Disease (COVID-19) Outbreak and Pandemic Behavior, Johannes Gutenberg University, Mainz

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Laut Verschwörungstheorien soll Multimilliardär Bill Gates ist beliebte Zielscheibe von Verschwörungstheoretikern. Er soll bei Corona-Impfungen Microchips-Implantate einpflanzen, um die Menschheit zu kontrollieren.
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iStock FrankyDeMeyer