Seltene Erkrankungen

„Keiner soll mehr im Kreis laufen für eine Diagnostik“

In Österreich sind rund 450.000 Personen von Seltenen Erkrankungen betroffen – mehr als die Einwohner von Vorarlberg. Jeder zwanzigste hat mit einer seltenen Erkrankung zu kämpfen, im Durchschnitt also ein Kind pro Schulklasse. Über die Hälfte der Seltenen Erkrankungen zeigen sich bereits in der Kindheit, knapp drei Viertel haben eine genetische Ursache.

red

Der letzte Tag im Februar gilt seit nunmehr 15 Jahren als „Tag der Seltenen Erkrankungen“. Bei manchen dieser „Rare Diseases“ gibt es insgesamt weniger als zehn Patient:innen in Österreich. Selten gilt eine Krankheit laut EU dann, wenn sie weniger sie weniger als einen von 2.000 Menschen betrifft.

Rund 7.000 Rare Diseases sind bekannt, von seltenen Blutgerinnungsstörungen über Stoffwechselerkrankungen bis hin zu Immundefekten. Im Durchschnitt dauert die Diagnose einer seltenen Erkrankung fünf Jahre. Und besonders frustrierend: Nur für rund 6 Prozent der Seltenen Erkrankungen gibt es eine Therapie.

Wie das heimische Gesundheitssystem auf die Bedürfnisse der Betroffenen von Seltenen Erkrankungen besser eingehen kann, war vergangene Woche Thema einer Podiumsdiskussion des Austrian Health Forum (AHF). Moderiert wurde der Abend von Christoph Hörhan, dem Programmdirektor des Austrian Health Forum.

Diagnose als Befreiungsschlag und Schock

Vor allem der Faktor Zeit wird etwa von Susanne Greber, u.a. Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der MedUni Wien und Koordinatorin des AKH für Rare Diseases, hervorgestrichen: Zur oftmals langen Dauer bis zur korrekten Diagnose meint sie: „Keiner soll mehr im Kreis laufen für eine Diagnostik“. Zwar sei nur ein sehr kleiner Teil der seltenen Erkrankungen therapierbar. „Aber bei all jenen, bei denen es eine Therapie gibt, sind die Erfolge oft enorm.“ 

Ulrike Holzer, Obfrau von Pro Rare Austria, betont ebenfalls, wie wichtig es ist, den Diagnoseprozess zu verkürzen, und zwar aus mehreren Gründen: „Wenn man nicht weiß, was man hat, und diese Odyssee durchlaufen muss, schafft das eine Unsicherheit, die psychisch sehr belastet. Diese Zeit bis zur Diagnose ist oft schrecklich. Unser Wunsch wäre, dass das Bewusstsein bei den Ärzt:innen, vor allem im niedergelassenen Bereich, erhöht wird.“ Darüber hinaus sollten Case Manager „den Patient:innen helfen, zu ihren Rechten zu kommen“. Vor allem die Pandemie habe die sehr vulnerable Gruppe der Patient:innen mit seltenen Erkrankungen besonders stark getroffen.

„Die Diagnose selbst ist ein Schock, vor allem, wenn man erfährt, dass es keine Behandlungsmöglichkeit gibt.“ so Holzer. Aber immerhin könne man sich „dann auf die Füße stellen und lernen, mit der Erkrankung zurechtzukommen. Den Patient:innen, für die es keine Therapie gibt, muss trotzdem ein Leben in der Mitte der Gesellschaft ermöglicht werden.“ so Holzers Fazit.

Gesundheitssystem braucht Renovierung

Naghme Kamaleyan-Schmied, Stellvertretende Bundeskurienobfrau der niedergelassenen Ärzte und Allgemeinmedizinerin, weist auf die besondere Bedeutung der Eltern im Prozess der Diagnostik hin: „Die Eltern kämpfen wie die Löwen für ihre Kinder.“ Dies sei mit ein Grund dafür, dass der Weg zur Diagnose bei Kindern zwar ebenfalls sehr lang, aber kürzer als bei Erwachsenen sei.

Wenn ein Erwachsener mit einer seltenen Erkrankung in eine Ordination komme, werde er oft fälschlich als psychisch krank eingestuft. „Der Lösungsansatz ist natürlich Zeit, die die Ärzt:innen brauchen, um mit einem Patient:innen zu sprechen. Politisch ist es ganz wichtig, dass diese Zeit ermöglicht und bezahlt wird. Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, aber es ist in die Jahre gekommen und muss ‚renoviert‘ werden.“ so die Ärztin.

ÖGK-Obmann Andreas Huss betont die wichtige Rolle der Hausärzt:innen: „Wir müssen schauen, dass der niedergelassene Bereich ausgebaut wird. Derzeit verlieren wir immer mehr Ärzt:innen in die Privatmedizin.“ Die Privatisierung des Gesundheitssystems müsse verhindert werden, die öffentliche Finanzierung im Gesundheitsbereich sei auch entscheidend, damit auch für Seltene Erkrankungen Therapien verfügbar sind, so Huss weiter.

Zu jenen Patient:innen, denen das Gesundheitssystem aktuell keine Behandlung anbieten kann, weil es schlicht noch keine Therapien gibt: „Gerade wenn es für Seltene Erkrankungen keine Therapie gibt, ist die psychische Belastung besonders hoch.“ Man müsse daher die psychosozialen Versorgungszentren ausbauen. Vor allem Case Management, also die individualisierte Begleitung durch das Gesundheitssystem, sei hier wichtig. „Case manager kennen sich im Sozialsystem gut aus und sind mit allen Einrichtungen eng vernetzt.“ Vorbild sei Oberösterreich.

Pro Rare Austria

 

 

 

 

 

 

Podiumsdiskussion Seltene Erkrankungen
v.li.: Susanne Greber, Ulrike Holzer, Claus Hörhan, Naghme Khamaleyan-Schmied, Andreas Huss
Austrian Health Forum / Klaus Ranger