Behandlung von genetisch bedingten Muskelerkrankungen im Umbruch

Spezielle medikamentöse Behandlungsstrategien und die Gentherapie mit potenziellen Heilungsaussichten bisher nur schlecht behandelbarer Erkrankungen sind im Kommen. Frühes Screening bei Babys soll zu optimalen Ergebnissen führen, stellten Experten am Freitag aus Anlass einer Tagung in Wien fest.

red/ek

Bisher sei man bei den genetisch bedingten Muskelerkrankungen kaum an die „Wurzeln“ herangekommen. Gerade hier wandle sich das Bild, erklärte Günther Bernert Vorstand der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am SMZ Süd in Wien. „Bei der Muskeldystrophie Duchenne (DMD; Anm.) fehlt den Muskeln ein Eiweiß, das für die Stabilität der Muskelfasern verantwortlich ist. Bei der Spinalen Muskelatrophie fehlt der (Signal-)Input der peripheren Nerven. Ohne Reiz kann die Muskelfaser nicht kontrahieren, sie wird immer dünner." In beiden Fällen - bei der Spinalen Muskelatrophie oft schon im frühen Säuglingsalter, bei der Duchenne-Erkrankung eher später - kommt es bei schweren Verläufen entweder zum Ausbleiben der motorischen Entwicklung (SMA) oder zu einem fortschreitenden Verlust bereits erworbener Fähigkeiten. Babys mit der SMA1-Krankheitsvariante sterben ohne Beatmung zumeist innerhalb von zwei Jahren. Die Lebenserwartung von DMD-Patienten liegt zumeist nur bei 20 bis 30 Jahren.

Doch die Wissenschaft und die Entwicklungen der pharmazeutischen Industrie sind dabei, das alte Bild - immerhin betrifft die SMA eines von 10.000 Neugeborenen, die DMD einen von 3.600 bis 10.000 neugeborenen Buben - völlig zu verändern. Nach einem Antisense-Nukleotid-Medikament (Nusinersen), das nach regelmäßiger Injektion ins Rückmark kompensatorische Effekte auslöst, steht eine potenziell heilende Gentherapie (Zolgensma) nach der Zulassung in den USA auch in der EU vor der Registrierung. Damit wird die bei den Kindern fehlende Produktion des sogenannten SMN1-Proteins, welches das Überleben der Motoneuronen im Zentralnervensystem gewährleistet, „repariert". Kostenpunkt derzeit: 1,945 Millionen Euro pro Patient.

Bei der Spinalen Muskelatrophie befinden sich laut der Schweizer Expertin Andrea Klein (Neuro-/Entwicklungspädiatrie Universitätskinderspital Basel/Bern) auch oral zu verabreichende Medikamente (z.B. Risdiplam/Roche) in Entwicklung. Sie sollen einen breiteren Effekt als Nusinersen bei einem ähnlichen Wirkungsmechanismus haben. In einer klinischen Studie konnte zum Beispiel bei SMA-Patienten prognostiziertem schweren Krankheitsverlauf bei allen behandelten Kindern das Schluckvermögen erhalten werden, keines der Kinder benötige permanente Beatmung. „Die Therapien haben einen Nachteil. Sie sind kostspielig", sagte Bernert. Die behandelnden Ärzte müssten aber immer versuchen, für ihre Patienten die bestmögliche Behandlung zu gewährleisten.

Etablierung eines Neugeborenen-Screenings in Vorbereitung

Entscheidend für den Erfolg aller Interventionen dürfte die frühestmögliche Erkennung der Störungen sein. Bei der Spinalen Muskelatrophie geht es dabei wegen des in den schwersten Fällen extrem frühen Ausbruchs der Krankheit um das Herausfiltern jener Neugeborenen mit der Veranlagung zu dieser Erkrankung, aber noch ohne Symptome. Der Münchner Experte Wolfgang Müller-Felber (Klinikum Universität München) hat unter Beteiligung einiger deutscher Bundesländer ein Neugeborenen-Screening erprobt.

„Wir haben rund 300.000 Kinder gescreent. Wir konnten bei 42 Kindern Veränderungen finden, die für das Vorhandensein einer Spinalen Muskelatrophie sprachen. Wir hatten keine falsch positiven Ergebnisse", erklärte der Experte. Bei einem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf werde sofort behandelt. „Die Kinder zeigten eine zu gesunden Kindern analoge Entwicklung. Sie erlangten die Gehfähigkeit", sagte Müller-Felber in einem Video-Statement.

Derzeit laufen auch in Österreich bereits die Vorbereitungen für die Etablierung eines Neugeborenen-Screenings im Rahmen des seit Jahrzehnten bundesweit etablierten Programms mit der Analyse eines eingetrockneten Bluttropfens auf Löschpapier auf eine ganze Reihe von Erkrankungen, zum Beispiel erblich bedingte Stoffwechselerkrankungen. „Wir sind optimistisch, dass wir noch heuer einen bundesweiten Pilotversuch starten können", sagte Bernert. Wichtig wäre aber auch die baldige EU-Zulassung für die neuen Therapieformen inklusive Gentherapie. Denn erst dann kann die Verwendung der neuen Behandlungsmöglichkeiten auf eine stabile Basis inklusive Finanzierung gestellt werden. In Österreich dürften derzeit pro Jahr fünf Neugeborene für eine SMA-Gentherapie infrage kommen. In Wien fand am Freitag ein Experten-„UpDate Muskelforschung" statt.