Myeloproliferative Neoplasien (MPN) haben ihren Ursprung in Blutstammzellen des Knochenmarks. Diese Blutstammzellen sind normalerweise dafür zuständig, zeitlebens gesunde, funktionsfähige Blutzellen zu bilden. Bestimmte genetische Veränderungen wie Mutationen im Januskinase-2(JAK2)- und Calreticulin(CALR)-Gen von Blutstammzellen können jedoch dazu führen, dass die normale Blutbildung gestört wird und durch unkontrolliertes, überschießendes Wachstum reifer Blutzellen (Erythrozyten, Granulozyten, Thrombozyten) eine myeloproliferative Neoplasie entsteht. Erkrankte haben dadurch ein erhöhtes Risiko für die Bildung von Blutgerinnseln und somit für die Entstehung von Herzinfarkten, Schlaganfällen oder anderen Gefäßverschlüssen. Auch Beschwerden wie Müdigkeit, Nachtschweiß und Fieber können im Rahmen dieser Erkrankungen sehr häufig auftreten. Durch die Entwicklung von Januskinase(JAK)-Inhibitoren gibt es seit einigen Jahren eine spezifische Therapie für Patient*innen mit einer Mutation im JAK2-Gen. Eine zielgerichtete Therapie für Patient*innen mit einer Mutation im CALR-Gen gibt es bis dato jedoch noch nicht.
In einer kürzlich veröffentlichten Publikation im hochrangigen Journal Leukemia konnte Johannes Foßelteder, PhD-Student aus der Arbeitsgruppe von Andreas Reinisch, der klinischen Abteilung für Hämatologie und Universitätsklinik für Blutgruppenserologie und Transfusionsmedizin eine gestörte Proteinfaltung im endoplasmatischen Retikulum (ER) von Blutstammzellen als einen neuen CALR-mutationsspezifischen Pathomechanismus beschreiben. Das endoplasmatische Retikulum ist ein weitverzweigtes Gangsystem in der Zelle und spielt eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Stoffen wie Proteinen oder Fettsäuren. In ihrer Forschungsarbeit konnten die Wissenschafter*innen zeigen, dass diese gestörte Proteinfaltung auch einen neuen therapeutischen Angriffspunkt darstellt, der für eine spezifische Behandlung von Patient*innen mit CALR-Mutationen eingesetzt werden kann.
Entschlüsselung pathogener Mechanismen
Die Wissenschafter*innen konnten erstmals mithilfe der sehr präzisen CRISPR/Cas9-Genschere die beiden häufigsten CALR-Genmutationen an der physischen Position des Gens in gesunde humane Blutstammzellen einbringen. Hinter der sperrigen Abkürzung CRISPR/Cas9 verbirgt sich ein neues molekularbiologisches Verfahren, um DNA-Bausteine im Erbgut sehr gezielt zu verändern. Die Genschere kann in nahezu allen lebenden Zellen eingesetzt werden und ist in ihrer Präzision einzigartig. Dadurch konnten die Grazer Forscher*innen die exakten molekularen krank machenden Mechanismen beleuchten, die durch die CALR-Mutation ausgelöst werden und zur bösartigen Entartung der Zellen beitragen.
Die korrekte Faltung neu gebildeter Proteine ist ein hochkomplexer Vorgang, der im endoplasmatischen Retikulum (ER) der Zellen stattfindet. Die dreidimensionale Struktur ist für die richtige Funktion der Proteine wesentlich und schon kleinste Fehler in dem Faltungsprozess können die Proteine unbrauchbar machen. Falsch oder unvollständig gefaltete Proteine führen dazu, dass im ER ein Alarm, die sogenannte „unfolded protein response“ (UPR), ausgelöst wird. Dadurch werden falsch gefaltete Proteine entweder korrigiert oder abgebaut. Sind diese Korrektur- und Abbauprozesse jedoch durch ein Übermaß an falsch gefaltetem Protein überlastet, führt dies zur Apoptose, dem induzierten Zelltod.
Neues Zellmodell führt zu elevanten Erkenntnissen
Genau hier hat das Team um Andreas Reinisch und Johannes Foßelteder nun angesetzt. Mit ihrem neuen Zellmodell konnte die Gruppe herausfinden, dass Mutationen im CALR-Gen die regulären Proteinfaltungsprozesse in Blutstammzellen negativ beeinflussen. Durch die Anhäufung von falsch gefaltetem Protein kommt es in den CALR-mutierten Zellen zur übermäßigen Aktivierung der UPR. In ihrer Studie konnten die Forscher*innen zeigen, dass durch eine zusätzliche Blockierung des Proteinabbaus (durch Proteasomen-Inhibitoren) oder eine Blockierung der UPR (somit Blockierung der Protein-Faltungskorrektur) zu viel falsch gefaltetes Protein anfällt und das Fass buchstäblich zum Überlaufen gebracht wird. Die Zellen gehen dadurch in Apoptose und sterben ab.
Proteasomen-Inhibitoren sind bereits für andere hämatologische Erkrankungen zugelassen, somit wäre eine Übertragung dieser präklinischen Ergebnisse möglichst rasch denkbar. Andreas Reinisch zeigt sich optimistisch ob der Ergebnisse der Studie: „Wir hoffen natürlich, dass diese Inhibitoren ihren Weg in die klinische Verwendung finden werden und in Zukunft vielversprechende Therapieansätze für CALR-mutierte MPN-Patient*innen bieten.“