Gabriele Possanner: Pionierin mit eisernem Willen

Sie war die erste Frau, die in der damaligen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn die Doktorwürde erhielt – und das gegen eine erkleckliche Anzahl von Widerständen. Ein umso größeres Triumphgefühl muss es gewesen sein, als Gabriele Baronin Possanner am 2. April vor nunmehr 122 Jahren an der Universität Wien promoviert wurde.

Eva Kaiserseder

„Wenn Kaiserinnen und Königinnen durch thatkräftige und weise Regierung sich unsterblichen Ruhm in der Geschichte erworben haben, warum sollten dann Frauen für unfähig erachtet werden, in höheren Berufskreisen segensreich wirken zu können?“ so Possanners damaliger Promotor. Dieser Satz, der hier eine gewisse Selbstverständlichkeit ärztlicher Heilkunst in weiblicher Hand impliziert, könnte falscher nicht sein. Zumindest wenn man ihn auf Gabriele Possanners mühsamen Weg zur Ausübung des Arztberufes bezieht. Denn hinter der endlich erreichten Approbation, in Österreich als Ärztin wirken zu dürfen, steht ein langer und steiniger Weg.

Gabriele Possanner wurde 1860 in Ofen bei Budapest geboren, in eine katholische Beamtenfamilie mit insgesamt 8 Kindern.  Ihr Vater, Benjamin von Possanner-Ehrental, hatte Jus studiert und arbeitete im Staatsdienst als Finanzbeamter, seine Frau Pauline war 15 Jahre jünger als er. Die junge Gabriele verbrachte, immer den unterschiedlichen Karrierestationen des Vaters folgend, ihre ersten 20 Lebensjahre in sechs verschiedenen Städten, darunter Arad (Banat) oder Laibach. 1880 wurde die Familie schließlich in Wien sesshaft, die Wohnung befand sich im ersten Bezirk in der Ballgasse 6.

Matura am Akademischen Gymnasium

Nach einer Schullaufbahn, die Volksschule und Privatunterricht verquickte, legte Possanner 1887 als 27jährige Externistin ihre Matura am Akademischen Gymnasium in Wien 1 ab, und zwar gemeinsam mit zwei Gymnasiasten im Alter von 17 und 20 Jahren. (Possanner war übrigens mitnichten Bummelstudentin, sondern hatte bis dahin schon die Lehrerinnenbildungsanstalt bis 1885 absolviert). Sie war die erst zweite Frau, die diese Prüfung machte –  selbstredend an einem Knabengymnasium. Das erste Mädchengymnasium in Wien, die heutige AHS Rahlgasse, wurde nämlich erst 1892 gegründet.

Possaners Noten waren dabei nicht überragend, so schnitt sie in sieben Gegenständen mit genügend bzw. befriedigend ab. Nichtsdestotrotz wurde sie für reif erklärt –  allerdings mit einem entscheidenden Haken: Die „Erteilung der Reife zum Besuch einer Universität“ war Frauen damals per Gesetz vorenthalten, eine Hochschule damit für Possaner wie für alle Frauen, die zu dieser Zeit maturierten, in weiter Ferne, zumindest in Österreich-Ungarn. Derlei Hindernissen hielten Possanner von ihrem Ziel, Ärztin zu werden, allerdings nicht ab: Sie suchte nach Alternativen und akademischen Schlupföchern und fand ein damals recht populäres Ausweichmodell für weibliche Studierende: Sie ging nämlich in die Schweiz an die „Zürcherische Hochschule“. Dort waren Frauen, recht progressiv für die damalige Zeit, schon seit 1864 zum Studium zugelassen. So weit so gut.

Es wäre allerdings nicht symptomatisch für Possanners von Hindernissen gepflasterten Lebensweg, wäre hier alles reibungslos gelaufen: Als sie zum ersten Staatsexamen antreten wollte, hieß es prompt: Zurück an den Start! Ihr wurde nämlich lapidar mitgeteilt, dass das in Österreich so mühsam erworbene Maturazeugnis für die Schweiz wertlos sei. Die Eidgenossen wollten für das Studium eine extra in der Schweiz abgelegte Reifeprüfung. Überflüssig zu sagen, dass die zielstrebige Wienerin auch diese Hürde meisterte: Sie begann den zweiten Studienabschnitt dann schließlich 1890, mit zwei Maturazeugnissen, dem österreichischen und schweizerischen, in der Tasche.  

Ärztin in der Schweiz...

Und weil doppelt besser hält, erreichte Possanner drei Jahre später schließlich eines der großen Ziele ihres Berufslebens mit Bestnoten: Im Sommersemester 1883 legte sie ihre medizinische Fachprüfung ab, mit sechsmal „Sehr gut“ und zweimal „gut“. Die 33-jährige Kosmopolitin war endlich Ärztin!

Zu dieser Zeit hatte sich Possanner übrigens schon auf die Augenheilkunde spezialisiert. Der Titel ihrer Dissertation lautete „Ueber die Lebensdauer bei Retinitis albuminurica (nachträglich geändert auf „Ueber die Lebensdauer nach dem Auftreten von Retinitis albuminurica“). Als Possanners Doktorvater fungierte der damalige Vorstand der Augenklinik und spätere Rektor der Universität, Otto Haab.

Mit diesem Abschluß hätte die Medizinerin nun in der Schweiz ihre Zelte aufschlagen und praktizieren können, mit Betonung auf dem Konjunktiv. Denn Possanner wollte genau das explizit nicht, es zog sie zurück nach Österreich, nur dort wollte sie leben und arbeiten. Ein nicht gerade unerhebliches Hindernis stand diesem Wunsch aber im Weg: Für jemanden, der in Österreich praktizieren wollten, war die Promotion in der Schweiz ungültig. Und ewig grüßt das (akademische) Murmeltier..

..und in Österreich zurück an den Start

Fast muss man Possaner übermenschlichen Willen attestieren, betrachtet man ihre nächstens Schritte, schließlich hätte sie in der Schweiz gut und gerne ihr Auslangen finden und als Ärztin arbeiten können. Sie aber hatte sich Österreich in den Kopf gesetzt und blieb daher nicht untätig: Unter anderem richtete sie eine Petition an das Abgeordnetenhaus und ein Gnadengesuch (sic!) an den Kaiser höchstpersönlich, ihr „die Ausübung der ärztlichen Praxis in Österreich allergnädigst zu bewilligen“. Der Kaiser zeigt sich tatsächlich gnädig, zumindest teilweise, und ermächtigte den damaligen Innenminister, die Zulassung zum Praktizieren im Bereich Geburtshilfe und Frauenheilkunde zu befürworten, auch weil Possanner sich in ihrem Brief auf Frauen bezogen hatte, die „den Besuch bei männlichen Ärzten scheuen würden“.  Allerdings wollte der Innenminister seine Erlaubnis nur unter einer Bedingung vergeben: Der Vorstand der 1. Geburtshilflichen Klinik musste Possanners Fachkompetenz bestätigen. Was dieser dann auch tat – und zwar vollumfassend: Er empfahl die Erteilung der venia practicandi für das gesamte Gebiet der Medizin und nicht nur für den angedachten geburtsheilkundlichen Teilbereich. Possanners beruflicher Lebenstraum war endlich zum Greifen nah!

Eine weitere, fast maliziös anmutende Bedingung des Innenministers erschwerte das aber: Alle Rigorosen sollten in Wien noch einmal abgelegt werden. Dabei, in diesem Prozeß, entstand eine wesentliche Gesetzesneuerung, nämlich der Entwurf zu einer Verordnung für die Nostrifikation (Anerkennung) ausländischer Diplome. Geschenkt, dass Possanner sogleich das Gesuch um Nostrifikation ihrer Schweizer Diplom an das medizinische Dekanat richtete. Dieses wurde auch positiv beantwortet, allerdings mit einem mehr als bitteren Beigeschmack, bei dem so manch anderer wohl spätestens jetzt das Handtuch geworfen hätte: Possanner musste, um tatsächlich auch in Österreich als Ärztin arbeiten zu dürfen, sämtliche praktische und theoretische Prüfungen an der medizinischen Fakultät nochmals ablegen. Was sie zwischen März 1896 und November 1897 auch machte. Das dritte Rigorosum legte sie am 29. März 1897 ab.

Um die Lebensleistung dieser Frau entsprechend zu würdigen, muss man sich an dieser Stelle kur vor Augen halten, was bisher geschah: Sie maturierte und studierte zweimal. Sie verließ ihre Heimat, folgte dort ihrer Berufung, wurde Ärztin, ruhte sich aber nicht auf ihren Lorbeeren aus, sondern ignorierte die Komfortzone weiterhin konsequent. Und sie scheute sich vor allem nicht, in einem autoritär regierten Staat die höchsten Autoritäten mit einer gesetzlich zementierten Ungerechtigkeit zu konfrontieren, die damals als Selbstverständlichkeit galt: Frauen haben in einer männlich dominierten Berufswelt nichts zu sagen. Possanner stand gegen diese Selbstverständlichkeit auf und ging furchtlos auf die Barrikaden.

„Bornierte Gefühle“ reloaded

Schließlich, im Alter von 37 Jahren und nach zähem Ringen um fachliche Anerkennung in ihrem Heimatland, wurde Possanner (oder Possaner, wie sich selbst zeitweise schrieb), endlich die Doktorwürde in Österreich zuerkannt. Ein Schritt, auf den sie jahrelang und beharrlich hingearbeitet hatte, gegen alle Widerstände der (männlich gemachten) Gesetzgebung und Akademikerschaft.

Ein Zeitzeugnis legt die sozialdemokratische Arbeiterinnen-Zeitung, der sozusagen auf die weibliche Leserschaft abgestimmte Spin Off der Arbeiter-Zeitung, ab. Sie feierte Possanners Promovierung am 2. April 1897 dementsprechend begeistert: „Ein bedeutsames und alle denkenden Frauen erfreuliches Ereignis hat sich vollzogen. (…) Sie als Weib hatte doppelte Prüfungen zu bestehen und sie hat sie glänzend bestanden.“ Nicht alle waren indes genauso enthusasmiert darüber wie die Redakteurin der Arbeiterinnen-Zeitung, denn „manche konnten ihre bornierten Gefühle (..während der Promotion..) nicht beherrschen und äußerten sie durch Zischen, während das verständige Publikum seinen Beifall gab.“, wie weiters berichtet wurde.

Diese „bornierten Gefühle“ waren aber auch durch Possaners mutige Pioniertat in den Jahren darauf keineswegs verschwunden, die Wienerin blieb als weibliche Ärztin eine Exotin in ihrer Profession. Erstens, weil es nun zwar die Möglichkeit der Nostrifikation für Frauen gab, diese aber mit ungerechtfertigten Auflagen versehen waren (alle Rigorosen mussten noch einmal abgelegt und der Nachweis über ein „moralisch einwandfreies Vorleben“ erbracht werden) und zweitens, weil sich die medizinische Fakultät erst drei Jahre später, also 1900, für Frauen öffnete. Dazu gab es eine aus heutiger Sicht schier unfassbare Adaptierung: Professoren war es explizit freigestellt, Frauen zu ihren Vorlesungen zuzulassen – oder eben nicht. Tatsächlich gab es Vortragende die aus dem Saal gingen, wenn sie eine Studentin sahen! Stichwort „bornierte Gefühle“…

Gabriele Possanner konnte jedoch im Mai 1897 ihre Praxis am Wiener Alsergrund in der Günthergasse 2 eröffnen. Dort ordinierte sie täglich von 15 bis 16 Uhr. Später wechselte die Privatpraxis an ihre Wohnadresse in der Alser Straße 26. Sie blieb unverheiratet und war auch als erster weiblicher Medizinalrat (der Titel wurde ihr 1928 verliehen) eine Pionierin. In Wien erinnert etwa die Possannergasse in Hietzing oder der Possannerpark am Zimmermannplatz am Alsergrund an sie. In die Ärztekammer wurde sie 1904 als „Ersatzmitglied“ gewählt, der dortige Sitzungssaal trägt als Würdigung ihren Namen. Auch der mit 10.000 Euro dotierte Possanner-Preis, der alle zwei Jahre vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung verliehen wird, soll an ihren Kampf für berufliche Geschlechtergleichheit erinnern.

Gabriele Possanner starb als 80-jährige in ihrer Wohnung am Alsergrund. Sie hatte 43 Jahre lang als Ärztin ordiniert; ein Beruf, für dessen Ausübung sie 10 Jahre lang gekämpft hatte. 

In Zahlen: Medizinnerinnen in Österreich

Die Wiener medizinische Fakultät öffnete sich anno 1900 für weibliche Hörerinnen, von insgesamt 2063 Medizinstudierenden waren 35 weiblich, was einem prozentualen Anteil von 1,7 entsprach. Diese Zahl stieg dann kontinuierlich; 1914, also bis zu Beginn des ersten Weltkrieges, lag der Frauenanteil unter den Studierenden bei 6,2 Prozent (190 Studentinnen gegenüber 2887 Studenten). Die Zahl der Absolventinnen in diesem Jahrgang lag bei 17.

Ein erster Peak lässt sich anno 1932 feststellen, 795 Medizinstudentinnen und 52 Absolventinnen finden sich da an der Universität Wien. Einen Einbruch ganz generell bei den Zahlen der Medizinstudierenden gab es dann 1938, nach dem so genannten „Anschluss“ an Hitlerdeutschland: 3479 Studierende (WS 1937/38) verringerten sich auf 2221 Studierenden im Wintersemester 1938/39. Die Anzahl von Studentinnen lag dabei jeweils bei 19,3 Prozent. Das erste Nachkriegssemester, also das Wintersemester 1945/46, startete mit 3377 Studierenden, 1330 (39,4 Prozent) davon waren weiblich. Die Absolventinnenzahl lag bei 25 Prozent. Diese Werte waren außergewöhnlich hoch, wohl auch, weil viele Männer gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft waren. Bis Mitte der 60er Jahre pendelte sich die Zahl weiblicher Studierender dann zwischen 25- und 30-Prozent-Anteilen an der Gesamtzahl ein, wobei die Zahl der Medizinstudierenden kontinuierlich stieg – so lang diese etwa anno 1966 bei 4150, also ziemlich genau das Doppelte der Zahlen aus 1900.

Aktuell hat sich der Anteil der weiblichen Studierenden bekanntlich stark gesteigert und ist entweder gleichauf mit den Männern oder sogar zahlenmäßig stärker. So verzeichnete die Wiener Medizinuni als größte Ausbildungsstätte des Landes 2018 von 7887 Studierenden 4173 weibliche gegenüber 3714 männlichen Studierenden. Von den 7887 Studierenden sind übrigens 5226 Österreicher und Österreicherinnen, 1716 EU-Bürger und 945 stammen aus Ländern außerhalb der EU.

 

Gabriele Possanner, Östereichische Illustrirte Zeitung/anno/ÖNB
Als erste weibliche Ärztin in Österreich hatte Gabriele Possanner gegen viele Widerstände zu kämpfen. 1894 beendete sie ihr Studium in der Schweiz, musste aber, um in Österreich praktizieren zu dürfen, alle Prüfungen und Rigorosen hier wiederholen.
Östereichische Illustrirte Zeitung_anno/ÖNB
„..sie scheute sich vor allem nicht, in einem autoritär regierten Staat die höchsten Autoritäten mit einer gesetzlich zementierten Ungerechtigkeit zu konfrontieren, die damals als Selbstverständlichkeit galt: Frauen haben in einer männlich dominierten Berufswelt nichts zu sagen."
Verzeichnis Kurrentschrift 1897-1923
Das Verzeichnis promovierter Frauen von 1900-1923 an der Universität Wien, Possanners Name steht ganz oben.
Archiv der Universität Wien
Possanner Straßenschild Wien 13
In Wien Hietzing erinnert die Possannergasse, die 1960 anlässlich des 100. Geburtstages von Gabriele Possanner so benannt wurde, an Österreichs erste Ärztin.
Funke
„Gabriele Possanner starb als 80-jährige in ihrer Wohnung am Alsergrund. Sie hatte 43 Jahre lang als Ärztin ordiniert; ein Beruf, für dessen Ausübung sie 10 Jahre lang gekämpft hatte."