Interview Schlaganfall
Interview Schlaganfall

„Die Risikovoraussage wird sich deutlich verbessern"

Jährlich erleiden ungefähr 25.000 Österreicher einen Schlaganfall, nach Herzkreislauferkrankungen und Krebserkrankungen ist der Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache in Österreich: Bei Frauen gehen rund 1,9 Prozent der Todesfälle auf einen Schlaganfall zurück, bei Männern sind es rund 1,4 Prozent. Der Neurologe Stefan Kiechl ist unter anderem wissenschaftlicher Leiter am VASCage, das Gefäßalterung und Schlaganfall im Fokus hat. Im medinlive-Interview skizziert er den aktuellen Forschungsstand, die dramatische Entwicklung bei der Akuttherapie und das Thema Prävention bei der Arteriosklerose, Stichwort chronische Entzündungen.

Eva Kaiserseder

medinlive: Gefäßalterung und Schlaganfallrisiko sind eng verknüpft. Mit welchen diagnostischen Parametern lässt sich momentan das Risiko für einen Schlaganfall einschätzen und welche Innovationen gibt es hier?

Stefan Kiechl: Es ist richtig, dass Gefäßalterung und das Schlaganfallrisiko sehr eng miteinander verknüpft sind. Die Risikoabschätzung für einen Schlaganfall beruht aber immer noch auf der Messung von kardiovaskulären Risikofaktoren. Auf Basis des Alters, Geschlechts, Blutdrucks sowie Cholesterinwerte und Risikofaktoren wie Diabetes und Rauchen kann anhand traditioneller (z.B. Framingham Risk Score) und neuer (Stroke Riskometer, ESC Score) das Schlaganfallrisiko über die nächsten fünf bzw. zehn Jahre gut abgeschätzt werden. Derartige Risikoeinschätzungen sind relevant für die Auswahl der richtigen Medikamente in der Schlaganfallprävention. Zukünftig werden aber auch Messungen der Gefäßalterung in der Risikoabschätzung eine Rolle spielen. So kann der Nachweis von Arteriosklerose im Karotis-Ultraschall und insbesondere auch die Messung der Pulswellengeschwindigkeit die Risikovoraussage deutlich verbessern.

medinlive: Was weiß man bisher über die Mechanismen, die Gefäßgesundheit und Schlaganfall miteinander verbinden?

Kiechl: Der Schlaganfall ist letztendlich Folge einer Gefäßalterung. Hier spielen unterschiedliche Alterungsprozesse eine wichtige Rolle. Der bekannteste und am besten erforschte Prozess ist die Arteriosklerose, d.h. die Ablagerung von Lipiden und zum Teil auch von Kalk in der Gefäßwand. Besonders wichtig und noch unzureichend erforscht ist die Versteifung der Gefäße, die bereits im frühen Erwachsenenalter beginnt und teils andere Risikofaktoren wie die Arteriosklerose aufweist. Der Verlust an elastischen Fasern ebenso wie chronische Entzündungsprozesse und ein Umbau der Gefäßwandmatrix spielen hier eine entscheidende Rolle. Laufende Studien werden zeigen, wie die Gefäßsteifigkeit durch Medikamente und Lebensstilmodifikationen beeinflusst werden kann.

medinlive: Welche Schlaganfall„arten“ gibt es? Mit welchen Symptomatiken bzw. Ursachen sind diese verbunden?

Kiechl: Beim Schlaganfall unterscheidet man zwischen ischämischen Schlaganfällen und blutigen Schlaganfällen. In der ersten Gruppe kommt es zum Verschluss von Gefäßen im Gehirn mit konsekutiven Gewebsuntergang durch Sauerstoffminderversorgung. Eine seltene Unterform ist der sogenannte venöse Schlaganfall, der auch als seltene Nebenwirkungen von vektorbasierten COVID-Impfungen in die Schlagzeilen gekommen ist. In der zweiten Gruppe, dem blutigen Schlaganfall, werden Hirnblutungen durch Zerreißung von Gefäßen und die sogenannten Subarachnoidalblutungen durch Ruptur von Gefäß-Aussackungen („Aneurysmen“) unterschieden. Der ischämische Schlaganfall ist ungefähr achtmal häufiger wie der blutige Schlaganfall. Typische Symptome sind das plötzliche Auftreten von Sprachstörungen, halbseitigen Lähmungen oder Gesichtsfeldausfällen. Bei dem blutigen Schlaganfall ist ein heftigster, plötzlich auftretender Kopfschmerz typisch. Beim ischämischen Schlaganfall hingegen sind Kopfschmerzen sehr selten.

medinlive: Stichwort Akuttherapie: Was ist der Goldstandard und welche Entwicklungen gibt es?

Kiechl: Die Akuttherapie des Schlaganfalls hat sich in den letzten Jahren dramatisch weiterentwickelt. Der Goldstandard ist nun mehr bei allen Verschlüssen größerer Gefäße eine Katheterbehandlung mit wiederentfernbaren Stents, mit denen das Blutgerinnsel geborgen und entfernt wird. Dieser Eingriff wird in Kombination mit einer intravenösen Thrombolyse-Therapie (Auflösung des Gerinnsels durch Medikamente) durchgeführt. Die intravenöse Lyse-Therapie kommt auch bei leichteren und mittelschweren Schlaganfällen ohne Verschlüsse größerer Gefäße zum Einsatz. Beide Methoden, die die Wiedereröffnung des Gefäßes zum Ziel haben, haben die Chancen der Heilung nach Schlaganfall sehr deutlich verbessert. Weitere wichtige Komponenten der Akuttherapie sind die Aufnahme an einer Schlaganfalleinheit, eine frühe Prävention von Rezidiv-Ereignissen, eine frühe Mobilisierung aus dem Bett und die Vermeidung von häufigen Komplikationen, die in den ersten Tagen und auch Wochen und Monate nach dem Schlaganfall auftreten.

medinlive: Eines ihrer Hauptforschungsgebiete ist die Pathogenese der Arteriosklerose. Welche (medikamentöse) Behandlung gibt es derzeit unter Berücksichtigung der Krankheit als chronische Entzündung? Wie sieht der aktuelle Forschungsstand dazu aus, auch hinsichtlich Prävention bzw. Risikofaktoren?

Kiechl: Die Arteriosklerose ist eine chronisch-entzündlicher Prozess. Der breite Einsatz von Cholesterin-senkenden Medikamenten vermindert den Fettgehalt in der Gefäßwand und reduziert so die Gefäßwandentzündung. Systemische chronisch-entzündliche Erkrankungen (z.B. Rheuma) fördern den Progress der Arteriosklerose. Umgekehrt führt eine gute Behandlung dieser Erkrankungen zu einer Stabilisierung der Arteriosklerose. Eine direkte anti-entzündliche Therapie der Arteriosklerose ist derzeit noch nicht im klinischen Einsatz. Allerdings laufen hierzu große und vielversprechende Studien bereits in ihrem letzten Abschnitt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in wenigen Jahren eine direkt anti-entzündliche Therapie z.B. durch das alte Gichtmittel Colchicin auch in der Schlaganfallprävention Anwendung finden könnte.

medinlive: Sie sind an der Bruneck-Studie beteiligt. Können Sie kurz erklären, was es mit diesem Projekt auf sich hat und welche Ergebnisse vorliegen?

Kiechl: Die Bruneck-Studie ist eine der relevantesten populationsbasierten prospektiven Kohorten-Studien weltweit. Es werden hier mehr als 1.000 zufällig ausgewählte Probanden mittlerweile über mehr als 30 Jahren untersucht und die Entstehung verschiedener wichtiger Erkrankungen genau analysiert. Viele der aktuell gültigen Hypothesen in der Gefäßmedizin gehen auf Auswertungen der Bruneck-Studie zurück oder wurden durch die Bruneck-Studie weiter bestätigt. Aktuell wird z.B. der Einfluss der Darmmikrobiota auf Gefäßgesundheit im Detail untersucht.

medinlive: Was sind Ihre mittelfristigen Pläne mit VASCage und an der Innsbrucker MedUni, welcher Forschungsschwerpunkt beschäftigt Sie derzeit am Intensivsten?

Kiechl: VASCage ist eines der wenigen Schlaganfallforschungszentren in Europa und das einzige mit einem primär klinischen Schwerpunkt. Ziel ist es, hier neue Diagnose- und Therapieverfahren zu entwickeln, die dann Anwendung in der klinischen Routine finden. Besonders hervorzuheben ist die wichtige Synergie aus hochkarätiger Grundlagenforschung zur Gefäßalterung und klinischen Studien sowie der Versorgungsforschung beim Schlaganfall. Zentral bei VASCage ist der Aufbau einer Plattform für frühe klinische Studien mit entsprechender Begleitforschung. Hier findet sich eine sehr gute Synergie mit der Medizinischen Universität Innsbruck, die auch Haupteigner von VASCage ist. Die Forschungsschwerpunkte von VASCage sind die Akutbehandlung und Nachsorge des Schlaganfalls unter besonderer Berücksichtigung der Rehabilitation.

Zur Person

Seit 1. Oktober 2019 ist Stefan Kiechl Direktor der Univ.-Klinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck. „Die Fokussierung auf die bewährten wissenschaftlichen Hauptschwerpunkte Bewegungsstörungen, Schlaganfall, Schlafmedizin, Intensivneurologie und Neuroimmunologie soll beibehalten bleiben.“ so Kiechl. Er absolvierte nach der Matura an der Universität Innsbruck das Medizin-Studium, das er 1990 mit Auszeichnung (Dr. sub auspiciis praesidentis rei publicae) abschloss. Nach der Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und einer postgraduellen Weiterbildung in Epidemiologie und Biostatistik habilitierte sich Kiechl im Jahr 2000 an der Universität Innsbruck mit dem Thema „Natural course of carotid atherosclerosis: implications for the prevention of ischemic stroke“. Seitdem leitet Kiechl gemeinsam mit Johann Willeit die Schlaganfalleinheit und Neurovaskuläre Arbeitsgruppe an der Medizinischen Universität Innsbruck. Nach dem erfolgreichen Abschluss des K-Projekts VASCage war die Realisierung des COMET-Zentrums VASCage ein weiterer Höhepunkt. Stefan Kiechl war bis 2020 u.a. Präsident der Österreichischen Schlaganfallgesellschaft, er ist Mitglied der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie, der Europäischen sowie der Welt-Schlaganfallgesellschaft.

VASCage

Tag gegen den Schlaganfall

 

 

Stefan Kiechl
Stefan Kiechl ist Direktor der Univ.-Klinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck und wissenschaftlicher Leiter von VASCage.
VASCAge_Knoflach
 
© medinlive | 02.10.2024 | Link: https://www.medinlive.at/index.php/wissenschaft/die-risikovoraussage-wird-sich-deutlich-verbessern