Jedes fünfte Kind lebt in Armut
Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt. Trotzdem leben 350.000 Kinder und Jugendliche hierzulande in Armut. Die Corona-Pandemie mit Lockdowns, Schulschließungen und Anstieg der Arbeitslosigkeit hat die Situation für die Betroffenen zusätzlich verschlechtert.
Eigentlich sollte Kinderarmut in Österreich im 21. Jahrhundert kein Thema mehr sein. Leider ist dem aber nicht so. Kinderarmut verschwindet nicht, vielmehr ist es umgekehrt, sie wächst. 350.000 Kinder und Jugendliche sind in Österreich von Armut betroffen. Das ist mehr als jedes fünfte Kind in einem der reichsten Länder der Welt. Im Jahr 2019 hatten die Volkshilfe Österreich und die Ärztekammer für Wien gemeinsam Ärztinnen und Ärzte über den Zusammenhang von Kinderarmut und Kindergesundheit befragt. Das wenig überraschende Ergebnis der Umfrage: Armut im Kindesalter führt zu deutlich höheren Gesundheitsrisiken. Denn in Armut aufwachsen bedeutet nicht nur, dass es Kindern an materiellen Dingen mangelt. Es kann auch bedeuten, mit einem geringeren Geburtsgewicht zur Welt zu kommen, bei Schuleintritt eine geringere Körpergröße zu haben, oder häufiger in Unfälle verwickelt zu sein und letztendlich sind die armen Kinder von heute die chronisch Kranken von morgen.
Kein Roller, keine Nachhilfe
Generell gilt: Kinder, die in Armut leben, erkranken öfter physisch und psychisch, zeigen vermehrt Störungen in ihrer Entwicklung, neigen durch schlechtere Ernährung verstärkt zu Adipositas und anderen Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Haltungsschäden, sterben um fünf bis acht Jahre früher als die Durchschnittsbevölkerung und sind stärker suizidgefährdet. Sie fühlen sich zudem weniger leistungsfähig, was sie in der Schule benachteiligt. Auch bei der Ernährung müssen armutsbetroffene Haushalte aus Kostengründen den Schwerpunkt öfter auf Quantität statt auf die qualitative Auswahl von Lebensmittel legen: So ist der Anteil der Kinder, die nur Toastbrot essen in armutsbetroffenen Familien vor allem zu Monatsende höher. Kinder aus Familien mit niedrigem Haushaltseinkommen bewegen sich auch weniger, weil sich ihre Eltern keine Sport- und Freizeitgeräte, wie Roller oder Fahrräder, leisten können – das betrifft rund ein Zehntel aller österreichischen Haushalte. Die Hälfte der armutsgefährdeten Familien kann sich auch keinen Nachhilfeunterricht für ihre Kinder leisten. Generell leiden armutsbetroffene Kinder häufiger unter psychosomatischen Symptomen, wie verminderter Konzentrationsfähigkeit, erhöhter Müdigkeit, Nervosität, Aggressivität oder depressivem Verhalten und sie sind zusätzlich stärker von Mobbing betroffen. Auch in der Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen finden sich Ungleichheiten. Etwa, wenn es um kostenpflichtige Behandlungen und Behelfe für Kinder, um Selbstbehalte bei Therapiekosten, Sehbehelfe oder auch um nicht verschreibungspflichtige Medikamente geht. All das stellt eine massive Herausforderung für armutsbetroffene Familien dar.
Corona hat alles verschärft
Die Corona-Krise spitzte den Zusammenhang von Armut und Gesundheit noch weiter zu und war vor allem für Kinder eine enorme Belastung. Denn die Pandemie mit all ihren negativen Begleitmaßnahmen, angefangen bei den Lockdowns, über Schulschließungen, bis zu den Einschränkungen bei sozialen Kontakten hat die Situation für Kinder und Jugendliche aus armutsbetroffenen Familien verschärft und deren Lebenslage deutlich verschlechtert, wie aus einer aktuellen Studie der Volkshilfe Österreich hervorgeht. Während der ersten Welle wurden ihre Bedürfnisse und Sorgen kaum beachtet. Erst mit der zweiten Welle kam es zu einem Umdenken. Auch weil Ärztinnen und Ärzte darauf hingewiesen haben, dass insbesondere die psychische Gesundheit von Kindern massiv unter der Corona-Krise und den mit ihr einhergehenden Maßnahmen leidet. Doch die Belastungen sind unter den Kindern ungleich verteilt. Armutsbetroffene Kinder litten etwa besonders unter der Umstellung auf Distance Learning – auch bedingt durch meist enge und schlechte Wohnsituationen sowie wegen unzureichender technischer Hilfsmittel.
Lage ist desaströs
Aus der Volkshilfe-Studie geht unter anderem auch hervor, dass 60 Prozent der armutsbetroffenen Kinder einsamer als vor der Corona-Krise sind. Doppelt so viele armutsbetroffene Eltern bewerten die Lebensqualität ihrer Kinder nach rund einem Jahr Pandemie mit einem Nicht Genügend und 20 Prozent der Eltern stufen die Lage ihrer Kinder als desaströs ein. Die Corona-Krise hat in Summe den Zusammenhang von Kinderarmut und Gesundheit noch weiter verschlechtert. Um langfristige Folgen aus dieser negativen Entwicklung möglichst abzufangen, muss gegengesteuert werden. Die Volkshilfe Österreich hat dafür einen Maßnahmenkatalog mit 30 Forderungen erstellt: Die Forderungen reichen von einer Anhebung des BIP-Anteils für Gesundheitsausgaben auf mindestens 12 Prozent, über die Einführung einer Kindergrundsicherung, bis zum Ausbau stationärer Therapie- und Behandlungsplätze für Kinder und der Einführung einer Ganztages-/Gesamtschule für alle 6- bis 14-jährigen.
30 Forderungen der Volkshilfe
- Anhebung des BIP-Anteils für Ausgaben des Gesundheitswesens auf mind. 12 Prozent und Erhöhung der finanziellen Mittel im Bereich Gesundheitsprävention für Kinder und Jugendliche
- Kostenfreie Therapien für Kinder und Jugendliche bei medizinischer Indikation ohne Wartezeiten. Kostenübernahme von LSR-Therapien, Ergotherapie und Logopädie in vollem Umfang durch die Sozialversicherung über die Sicherstellung ausreichender, bedarfsorientierter Kassenplätze
- Kurzfristig österreichweite Vereinheitlichung der Versorgungslage bei Psychotherapie und Vereinheitlichung der Leistungen aller Krankenkassenträger in diesem Bereich
- Rascher Ausbau der Krankenkassenplätze für Psychotherapie und Ende der Kontingentierung bei Psychotherapieplätzen auch für Personen über 18 Jahre und Ausbau von kassenfinanzierten Therapiemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche (konkret fehlen 80.000 kassenfinanzierte Therapieplätze für Kinder und Jugendliche). Rasche Schaffung von Ausbau der Psychotherapie-Ausbildungsplätze und Finanzierung durch die öffentliche Hand.
- Kostenfreiheit für Maßnahmen zur Mund- und Zahngesundheit sowohl bei präventiven Maßnahmen wie auch bei Behandlungen Minderjähriger.
- Ausbau der stationären Therapie- und Behandlungsplätze für Kinder und Jugendliche im Bereich Essstörungen und psychische Gesundheit.
- Flächendeckender Ausbau der kostenfreien Kinderbetreuungseinrichtungen, insbesondere für Kinder unter 3 Jahren und in ländlichen Regionen. Öffnungszeiten müssen eine Vollzeitbeschäftigung ermöglichen.
- Ausbau der Nachmittagsbetreuung.
- Einführung einer Ganztages-/Gesamtschule für alle 6- bis 14-jährigen, um die strukturelle Diskriminierung von armutsbetroffenen Kindern abzumildern.
- Ausbau der Schulassistenzen und Schulsozialarbeit in allen Bildungsstufen.
- Ausbau der Gesundheitsbetreuung im schulischen Bereich durch Ärzt*innen, DGKPs und Schulpsycholog*innen.
- Ausbau der niederschwelligen Angebote psychotherapeutischer Information und Beratung in Schulen.
- Ressourcen bereitstellen, um niederschwellige Informationen für alle Schüler*innen zum Thema psychische Gesundheit im Unterricht einbringen zu können.
- Kostenfreies Angebot für Frühstück und warmes, gesundheitsförderndes Mittagessen in Kindergarten und Schule für alle Kinder und Jugendlichen.
- Verstärktes Angebot niederschwelliger Kontakte und vereinfachter, mehrsprachiger Zugang zum Gesundheitswesen. Ausbau von qualifizierten Dolmetsch-Angeboten.
- Zugang zum Gesundheitswesen für alle Menschen, die in Österreich leben durch offensiv angebotene, qualifizierte Dolmetsch-Angebote.
- Förderung der Health-Literacy von Eltern durch kostenfreie, niederschwellige und zielgruppenspezifische Angebote.
- Sport und Bewegung von Anfang an – österreichweiter Ausbau von frühkindlichen, motopädagogischen Angeboten und deren finanzielle Förderung. Erhalt öffentlicher Infrastruktur wie etwa Schwimmbäder/Fußball- und Spielplätze.
- Ausbau der niederschwelligen, freiwilligen und kostenfreien Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz von Eltern mit Kleinkindern.
- Langfristige Förderzusagen und Angebote zur Sensibilisierung im Hinblick auf gesunde Ernährung und Lebensweise wie beispielsweise das Projekt „Gesundheitslots*innen“ der Volkshilfe Wien.
- Ausweitung des Gratis-Impfprogramms auf alle medizinisch empfohlenen Impfungen (z.B. Menningokken).
- Einführung einer Kindergrundsicherung um Kinderarmut nachhaltig zu beenden.
- Verlängerung der Familienbeihilfe bis zum 26. Lebensjahr für junge Erwachsene, die sich in einer Ausbildung befinden.
- Finanzielle Absicherung der Eltern über die Erhöhung des Arbeitslosengeldes, die Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld und eine erhöhte Mindestsicherung im Kontext der Corona-Krise und ihrer wirtschaftlichen Nachwirkungen.
- Ausbau der offenen Jugendarbeit inkl. Indoor-Möglichkeiten als niederschwelliges Angebot für Jugendliche.
- Ausbau der Jugendberatungsstellen mit ausreichendem Budget.
- Langfristige Zusagen für Projekte in speziellen Zielgruppen des Public Health (etwa z.B. für das Projekt der Volkshilfe Wien „Migrant*innen für Gesundheit“).
- Rechtsanspruch auf die Möglichkeit der Verlängerung der Angebote der Unterstützung für z.B. in der Grundversorgung oder der Jugendhilfen bis zum 21. Lebensjahr.
- Ausbau des Projekts „Frühe Hilfen“ in ganz Österreich, um Familien von Beginn an zu stärken und zu begleiten.
- Übernahme der Kosten für telefonische und digitale Helplines/Helpforen für Kinder und Jugendliche, gerade im Hinblick auf die Herausforderungen der Corona-Krise
Ebenfalls veröffentlicht wurde der Beitrag in der Zeitschrift doktorinwien Ausgabe 07/08/2021.