„Auf der Strecke bleibt oft das Zwischenmenschliche“
Der Applaus verhallte. Doch die, denen er galt, sind schon lange wieder an vorderster Front. Mit der fünften Coronawelle spitzt sich auch der Pflegemangel wieder zu. Fast jede zweite Pflegekraft in Österreich denkt regelmäßig an den Jobausstieg, ergab eine repräsentative Umfrage unter 2.470 Pflegekräften, die im Sommer 2021 Jahres publiziert wurde. Eine, die noch durchbeißt, ist Veronika*. Was sie bei der Betreuung von COVID-19-Patient*innen erlebt hat, schildert sie im „medinlive“-Interview.
Trifft man auf Veronika, trifft man auf geballte Energie verpackt in ein Farbenpotpourri, das sich in Kleidung und Schmuck entlädt. Von den korallfarbenen Ohrringen, über das knall gelbe bauchfreie Top, die Jeans mit Applikation zu den bunten Turnschuhen spielt sich einiges ab auf 1,60. Zwischen den mit Extensions verlängerten, orange gefärbten Haaren stecken bunte Spangen. Ohne Erdbeerrot geschminkte Lippen verlässt sie nicht das Haus. Veronika fällt gerne auf. Während sie optisch die Aufmerksamkeit gern auf sich zieht, ist sie im Gespräch immer ganz bei den anderen, bringt gleichwohl viel Feingefühl für jedes Gegenüber auf. Auch sieben Jahre als mobile Pflegerin haben daran nichts geändert. Aber sie hadert, besonders seit dem Frühjahr 2020.
Keine Sekunde zögerte Veronika, als sie zum Ausbruch der Pandemie für die mobile Pflege von Covid-Patienten angefragt wurde. Überhaupt tat sie sich generell oft schwer damit, „Nein“ zu sagen. Doch mit der neuen Aufgabe stieg die Arbeitsbelastung ins Unermessliche. Und das zu einer Zeit, in der sie gerade zu ihrem langjährigen Freund zog, der bis dahin über eine Autostunde entfernt wohnte. Während sie zuvor oft gemeinsam in die Nacht plauderten, sah er sie nun jeden Abend erschöpft ins Bett fallen. Gesprochen haben sie meist nur, wenn sie im Dienstauto zu Klienten fuhr. Auch da hatte sie kaum Ruhe. Der viele Stress drückte auf ihre Blase. Oft war sie nur damit beschäftigt, wo und wann sie wieder auf die Toilette gehen könnte. Und auch die Magenschmerzen wurden unterträglicher, sodass sie oft erst aß, wenn sie wieder nachhause kam.
Ständige Angst sich oder andere anzustecken
Die kräftezehrende Dienste hielten Veronika nicht davon ab jede freie Minute ihren Freunden zu widmen, zumindest telefonisch. Persönlich treffen traute sie sich nicht, auch wenn es nur ein Spaziergang auf Abstand gewesen wäre. Zu groß war ihre Angst, ihre Klienten anstecken zu können. Doch sie beschwerte sich nicht. Auch dann nicht, wenn andere über zu viel Zeit wegen Kurzarbeit oder fehlender Disziplin im Homeoffice lamentierten. Früher ging sie gerne in den Tanzkurs, einmal die Woche. Aber Personalausfälle wie Krankenstände machten jede Planung zunichte. Meist war sie zu mürbe, die Wohnung zu verlassen. Sie begann Halluzinogene zu nehmen und dass obwohl sie selbst vor Alkohol, nach einer trunkenen Nacht in der Jugend, großen Respekt hatte. Nur selten gestand sie sich ein, wie erschöpft sie war oder dass sie die Lust an vielem verlor. Wie viele andere Pflegerinnen denkt sie oft ans Aufhören. Derzeit sei es aber keine Option. Weder Kollegen noch Patient*innen will sie in Stich lassen.
medinlive: Wie haben Sie den Beginn der Coronapandemie aus beruflicher Sicht erlebt?
Veronika: Als die heiße Phase begann im März und April 2020 waren wir nur ein kleines Team von Pfleger*innen, die COVID-19-Patient*innen versorgten. Der Dienst war also sehr stressig. Doch nicht alle dieser Patient*innen hatten COVID-19. Manchmal hat es sich dies erst später herausgestellt. Ich hatte etwa fünf bis sechs Patient*innen, die man manchmal zwei bis drei Mal am Tag besuchte. Also viele Wohnbezirke, die man abfährt. Es war anstrengend. Was hinzukam: Bei jedem Besuch musste man sich umziehen, vieles der Ausrüstung wurde ja aus hygienischen Gründen entsorgt. Manchmal konnte ich meinen Mantel, Maske und Brille bei den Klient*innen lassen. Das war aber nur möglich, wenn man ganz sicher war, dass genug Platz vorhanden und eine gewisse Hygiene gewährleistet war. Die Innenseite des Mantels durfte ja keiner berühren. Haube, Schürze und Handschuhe habe ich bei jedem Einsatz frisch verwendet. Bei solchen Einsätzen haben wir die 3er-Maske (FFP3, Anm.) getragen. Sie sind eng, unangenehm bei der Hitze, kratzen und schneiden ein. Auch die Klient*innen sollten Masken tragen, aber das war nicht immer möglich, etwa wenn man ihr Gesicht waschen musste.
medinlive: Wie ist man damals an Sie herangegangen, als es um die Betreuung von COVID-19-Patient*innen ging? Und wie war die Bereitschaft Ihrer Kolleg*innen?
Veronika: Als ich damals gefragt wurde, habe ich gleich 'Ja' gesagt. Damals habe ich gedacht, dass es zum Berufsbild dazu gehört. Ich dachte: Wenn ich absage, wer soll das sonst machen? Ich habe ja keine Kinder und hätte mich auch nicht getraut, 'Nein' zu sagen. Außerdem hieß es, dass jeder früher oder später diesen Dienst machen muss. Ich habe auch von anderen Kolleg*innen gehört, denen nahegelegt wurde, dass sie diese Einsätze machen sollen. Da klang es nicht so freiwillig, wie bei mir. Einige haben auch schnell zugesagt und dann doch abgesagt. Ich kann mir gut vorstellen, dass in diesen Fällen die/der Partner*in oder die Familie dagegen war.
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medinlive: Was waren Covid-relevante Symptome, die Ihre Klient*innen hatten und wie hat dies ihre Arbeit verändert?
Veronika: Manche Klient*innen hatten einfach nur Fieber. Bei den Einsätzen haben wir auch Fieber gemessen, aber die meisten hatten keine typischen Symptome, außer die schon vorher unter eine Atemwegserkrankung litten. Wenn jemand ein schwerer Fall war, musste er sowieso ins Krankenhaus. Vielen Patient*innen waren symptomfrei.
medinlive: Konnten Sie sich während ihrer Einsätze testen lassen?
Veronika: Seit letztem Jahr wurde es möglich, dass wir uns in der Arbeit freiwillig und gratis testen können. Damals war es für mich schon zu spät, da hatte ich gerade keine Einsätze mehr. Jetzt nutzen das viele. Ich habe mich auch sofort im Februar impfen lassen. Ich hatte immer große Angst davor, andere anzustecken. Ich habe von einem Fall gehört, indem ein Patient, der zuhause betreut wurde, über eine Pflegerin angesteckt wurde.
medinlive: Mit dem Umziehen der Schutzkleidung blieb dann noch weniger Zeit für die Klient*innen?
Veronika: Wir wurden knapp fertig, manchmal überzieht man auch eine Viertelstunde. Was auf der Strecke bleibt, ist oft das Zwischenmenschliche. Da geht man oft mit einem schlechten Gefühl nachhause. Aber im Pflegeheim hatte ich noch weniger Zeit. Da ist sowieso nie Zeit zum Plaudern.Viele Pfleger*innen wechseln von der Hauspflege ins Pflegeheim, weil die Arbeitszeiten besser sind. Für mich wäre das aber nichts.
medinlive: Wie haben Sie es empfunden, als sich Menschen auf den Balkonen versammelten, um das Gesundheitspersonal zu beklatschen?
Veronika: Ich hab das zunächst nicht mitbekommen. Einmal ist es mir aufgefallen, als ich eine Klientin betreut habe. Ich fand es nett, hab mich kurz gefreut, aber es bringt halt nichts. Es ist trotzdem schnell wieder der Alltag da und alles vergessen. Als es wieder ruhiger war, dachte eh keiner mehr über die Leute nach, die in der Pflege arbeiten.
medinlive: Was sollte sich ändern, damit der Job für Sie wieder attraktiver wird?
Veronika: Mehr Personal und Bezahlung. Aber ich glaube, das wird sich nie ändern. Es gibt zu viele Baustellen. Zum einen, dass immer mehr Menschen pflegerische Unterstützung brauchen. Dann wird der Einstieg in den Beruf immer schwerer. Ich frag mich wie die Situation besser werden soll, wenn man nun für den Pflegeberuf eine Matura braucht, anstatt die Krankenpflegeschule zu besuchen, so wie ich das damals gemacht habe. Für mich persönlich wäre es schön, wenn man sich an die gewünschten Arbeitsstunden halten würde, ohne zusätzliche Stunden machen zu müssen. Eigentlich bin ich für 30 Stunden angestellt, aber wegen Kündigungen, Krankenstände, Quarantäne, nachgeholter Urlaube und unbesetzter Stellen musste ich so oft einspringen, dass ich wie bei einer Vollzeitstelle arbeite. In manchen Wochen waren es bis zu 50 Stunden. Auch andere Kolleg*innen haben viele Überstunden angehäuft und weil wir zu wenig Personal haben, können diese gar nicht abgebaut werden. Es ist auch ein Grund, warum viele kündigen. Die verbliebenen Kolleg*innen müssen dann aber die Arbeit der Fehlenden mitmachen und auch immer abrufbereit sein. Die Arbeitsbedingungen werden immer schlimmer, das will keiner mehr machen. Es ist ein Teufelskreis.
* Name ist der Redaktion bekannt
30.000 Menschen sind allein in Wien im Pflegebereich mit Überstunden, Konflikten und schwerer körperlicher Arbeit unter enormem Zeitdruck konfrontiert. Im Spitalsbereich sind es österreichweit an die 100.000. Dazu kommen all jene, die in Alters-und Pflegeheimen, in Betreuungseinrichtungen, der mobilen Pflege oder der Hauskrankenpflege tätig sind.
Gründe für den Personalmangel seien vielfältig, erklärte der Geschäftsführer der Sozialwirtschaft Österreich, Walter Marschitz. Einerseits habe es einen Geburten-Peak Ende der 1930er-, Anfang der 1940er-Jahre gegeben. Diese Personen seien bzw. würden nun pflegebedürftig. Schlechte Nachricht für die nähere Zukunft: Auch die Jahre bis zum Höhepunkt des Babybooms 1963 seien noch verhältnismäßig geburtenstark gewesen. Dazu komme, dass es mit Einführung des Pflegegelds Anfang der 1990er-Jahre zu einem starken Anstieg der Arbeitskräfte in diesem Bereich gekommen sei, die nun langsam ins Pensionsalter kämen.
Die Pandemie hat nicht nur die Arbeitsbelastung von Pflegerinnen erhöht, sondern auch zu vielen Ansteckungen geführt. ORF-Recherchen zeigen, dass vor allem in den Reihen der Pflegerinnen viele unter „Long Covid“ leiden. Die gesundheitliche Langzeitfolgen, die nach einer COVID-19 Infektion auftreten können wie Müdigkeit, Erschöpfung oder Konzentrationsschwäche, würden in vielen Fällen einen Arbeitsalltag fast unmöglich machen. Eine zusätzliche Belastung in der vierten Welle: ungeimpfte Patientinnen versorgen zu müssen. Etwas, das vielen Pflegerinnen zu schaffen macht.
Pflege-Organisationen fordern schon länger rasche Maßnahmen gegen den Personalmangel. Eine zentrale Forderung ist die Bezahlung während der Ausbildung, das würde Menschen zum Berufseinstieg motivieren. Die Ausbildung müsse zudem verbessert und die Angebote ausgeweitet werden. Um Pflegekräfte dann im Job zu halten, brauche es bessere Bezahlung und weniger Zeitdruck bei der Arbeit. Nötig seien auch die Rückgewinnung ausgeschiedener Pflegekräfte.
Die Pflegekräfte bekamen bei ihren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen auch Unterstützung seitens der Ärztekammer. Vizepräsident Harald Mayer bezeichnete die Zusammenarbeit in einer Aussendung zwischen den Pflegekräften und den Spitalsärzt*innen „als Schlüssel zu einer reibungslosen, bestmöglichen Patientenversorgung in unseren Spitälern“. Er mahnte eine gemeinsame Strategie ein und zeigte sich bereit, ein entsprechendes Konzept mitzugestalten und an dessen Umsetzung aktiv mitzuarbeiten.
Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) hatte im Juli erste Schritte für die lange angekündigte Pflegereform für den Herbst angekündigt. Seinen Schätzungen zufolge fehlen bis 2030 rund 80.000 zusätzliche Pflegekräfte, SPÖ-Chefin Rendi-Wagner spricht von 70.000 bis 100.000 nötigen Arbeitskräften binnen zehn Jahren. Einerseits gebe es durch demografischen Wandel mehr Pflegebedürftige, andererseits würden mehr Pflegekräfte in Pension gehen oder aufgrund der Arbeitsbedingungen den Job verlassen, so die SPÖ-Chefin. Rendi-Wagner fordert zudem einen Gehalt von 1.700 Euro brutto für Pflegekräfte in Ausbildung. Für Arbeitslose, die sich zu Pflegekräften oder für Zukunftsjobs umschulen lassen, soll es einen 500-Euro-Bonus zum Arbeitslosengeld geben. Der lange zugesagte Corona-Bonus von durchschnittlich 500 Euro für Ärzt*innen und Pflegepersonal soll im Dezember ausgezahlt werden. Doch ist die Prämie an Bedingungen gebunden: Man muss lange genug in der Einrichtung an Patient*innen gearbeitet haben und nahe genug dran gewesen sein.
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