Medizinhistorische Streifzüge – Folge 10
Medizinhistorische Streifzüge – Folge 10

Zur „Erhaltung der Menschheit“

Wo befand sich der ehemalige Eingang des 1784 gegründeten Wiener Gebär- und Findelhauses, was machte diese Einrichtung so besonders und welche Verbindung gibt es dabei zu Guido Holzknecht, dem Pionier der Radiologie? Regelmäßig begibt sich Hans-Peter Petutschnig bei medinlive auf eine Zeitreise zu den Spuren der alten Wiener Medizin. Dabei gibt es viel zu entdecken, längst Vergangenes, mitunter Skurriles, Schockierendes oder auch Prägendes, oft gut verborgen unter baulichen Veränderungen der letzten Jahrhunderte. In dieser Folge: Ein Spaziergang zum Hof 7 des alten AKH.

Hans-Peter Petutschnig

Wenn man von der Rotenhausgasse in den Hof 7 des alten AKH schlendert, durchschreitet man das sogenannte „Holzknecht-Tor“. Es erinnert an einen Pionier der Radiologie, Guido Holzknecht (1872-1931). Der Röntgenologe studierte in Wien, Straßburg und Königsberg, wo er bereits als Student die Entdeckung der Röntgenstrahlen miterlebte. Als er nach Wien zurückkehrte, wurde er Assistenzarzt bei Hermann Nothnagel. An seiner Abteilung setzte er sich mit der Röntgentechnik auseinander.

Holzknecht konstruierte das Chromoradiometer, da er erkannte, dass die Schädigung der Haut von der verabreichten Strahlendosis abhängt. Mit dem Gerät war es möglich, die Menge der abgegebenen Strahlung bestimmen, womit die Strahlenschäden an seiner Abteilung um fast 90 Prozent reduziert werden konnten.

Trotzdem wurde Holzknecht Opfer seines Berufs: Wie viele andere Persönlichkeiten der ersten Röntgenära starb er an den Folgen eines Strahlenschadens. Sein persönlicher Leidensweg begann 1910 mit der Amputation eines Fingers, zahlreiche Operationen an Händen und Armen folgten. Diese Behandlungen nahm er mit unglaublicher Disziplin hin. Eigens angefertigte Armprothesen ermöglichten ihm weitere Entwicklungsarbeiten. Nach jahrzehntelangem Leiden und um die 60 Operationen starb Holzknecht 1931 an den Folgen übermäßiger Strahlenaussetzung.

Büste Guido Holzknecht
Büste von Guido Holzknecht im Arne-Carlsson-Park im 9. Wiener Gemeindebezirk.


© Stefan Seelig

 

Noch aus einem anderen Grund ist das Holzknecht-Tor erwähnenswert. Denn exakt an dieser Stelle befand sich zwischen 1784 und 1845 der Eingang zum Gebärhaus, das man damals durch das sogenannte „Schwangerenthor“ betrat. An das Gebärhaus angeschlossen war das Wiener Findelhaus. Beide Einrichtungen wurden von Joseph II. 1784 gegründet und bestanden bis 1910.

In den Direktivregeln formulierte der Kaiser seine Argumente für die Gründung des Wiener Findelhauses, nämlich die „Erhaltung der Menschheit“. Das Überleben vieler Kinder war wichtig für die damalige Stärkung der Wirtschaft, die immer mehr Arbeitskräfte benötigte. Darüber hinaus wurden junge Männer natürlich auch für die Armee benötigt.

Erklärtes Ziel von Joseph II. war der Schutz der Neugeborenen vor Kindsmord und Kindsweglegungen unverheirateter Frauen sowie der gleichzeitige Schutz von Mutter und Kind durch eine Geburt unter medizinischer Aufsicht.

Somit wurde diese Abteilung im AKH von einer Reihe von Maßnahmen begleitet, die das Überleben der Neugeborenen sichern sollte. Man propagierte das Selbststillen, Impfungen sowie eine Verbesserung der Ärzte- und Hebammenausbildung. Zur selben Zeit entstanden zudem neue Gesetze, die beispielsweise über nicht verheiratete Eltern keine Geld- und Schandstrafen mehr verhängten. Juristen befassten sich mit der ungleichen Stellung unehelicher Kinder und der Diskriminierung der sogenannten „gefallenen Frauen“. 1786 erfolgte sogar eine rechtliche Gleichstellung unehelicher mit ehelichen Kindern, die aber einige Jahre später wieder zurückgenommen wurde.

Gegen Bezahlung eines festgelegten Betrags durfte man besondere Dienste des Gebärhauses in Anspruch nehmen: Die Frauen konnten das Krankenhaus durch das „Schwangerenthor“ diskret betreten und auch wieder verlassen. Sie wurden auch besser untergebracht und konnten ihr Neugeborenes im Findelhaus zurücklassen, ohne nach ihrem Namen gefragt zu werden. Für den Fall ihres Todes hatten sie in einem versiegelten Umschlag ihren Namen mitzuführen, um den Verantwortlichen des Hauses die Möglichkeit zu geben, ihre Familie zu verständigen.

Im 19. Jahrhundert sank allerdings die Zahl der Frauen, die sich diese totale Anonymität leisten konnten. Beispielsweise musste man 1868 dafür 205 Gulden, nach heutigem Wert in etwa 4.200 Euro, bezahlen, was für viele Frauen völlig unmöglich war.

Alle anderen Frauen mussten dem Gebär- und Findelhaus ihre persönlichen Daten bekanntgeben, dieses durfte die Daten allerdings nicht weitergeben. Die Unterbringung erfolgte in den damals üblichen großen Schlafsälen und man erwartete von den Frauen, dass sie sich für die Ausbildung von Geburtshelfern und Hebammen – das Gebärhaus war ja gleichzeitig eine Klinik der Wiener Universität – und später dem Findelhaus als Ammen zur Verfügung stellten.

Altes AKH 1784
Ansicht des Alten AKHs. Joseph II. gründete 1784 das alte AKH – dem Spital angeschlossen war von Anfang an das Gebär- und Findelhaus.


©Josef & Peter Schafer, AAKH-1784, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

 

Nach der Gründung des Kaisertums Österreich 1804 überlegte man sich, das Gebär- und Findelhaus aus dem AKH auszugliedern. 1819 kam dieses in den Zuständigkeitsbereich der Hofkanzlei. Da das Gebärhaus aber eben auch eine medizinische Ausbildungsstätte der Wiener Universität war, war dieses außerdem dem Unterrichtsministerium unterstellt. 1852 erfolgte die neuerliche Unterstellung unter die k.k. Niederösterreichische Statthalterei.

Die Ausgliederungen waren eine Sache, die Finanzierung war eine andere. Ab 1864 wurde die Herkunft der Schwangeren hinterfragt, um bei den entsprechenden Ländern der Monarchie die entstandenen Kosten einzuheben. Die im Findelhaus zurückgelassenen Kinder wurden der Heimatgemeinde der Mutter zur weiteren Versorgung übergeben.

Eine 1870 erfolgte Änderung des Findelhaus-Statuts brachte auch für jene Frauen, die bisher die Anonymität erkaufen konnten, das Ende der totalen Diskretion. Diese gab es nun nur noch für die Dauer der Findelpflege. Nur wenn das Kind starb, wurde der Umstand der unehelichen Geburt weiterhin diskret behandelt. 1910 wurde das Findel- und Gebärhaus geschlossen und durch das neu errichtete Niederösterreichische Landes-Zentralkinderheim ersetzt.

 

 

 

Hans-Peter Petutschnig ist seit vielen Jahren für die Pressearbeit und den Verlag der Wiener Ärztekammer verantwortlich. Er ist zudem stellvertretender Kammeramtsdirektor der Ärztekammer für Wien und organisiert zahlreiche kulturelle Veranstaltungen für Ärztinnen und Ärzte. Zusammen mit der staatlich geprüften Wiener Fremdenführerin sowie Kunst- und Kulturvermittlerin Bibiane Krapfenbauer-Horsky hat er das Buch „Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien – Medizinische Spaziergänge durch die Stadt“ verfasst.

Hans-Peter Petutschnig
Hans-Peter Petutschnig, seit vielen Jahren für die Pressearbeit und den Verlag der Wiener Ärztekammer verantwortlich, begibt sich nun regelmäßig bei medinlive auf eine Zeitreise zu den Spuren der alten Wiener Medizin.
Stefan Seelig
In den Direktivregeln formulierte Kaiser Joseph II. seine Argumente für die Gründung des Wiener Findelhauses, nämlich die „Erhaltung der Menschheit“. Das Überleben vieler Kinder war wichtig für die damalige Stärkung der Wirtschaft, die immer mehr Arbeitskräfte benötigte.
 
© medinlive | 02.10.2024 | Link: https://www.medinlive.at/index.php/gesellschaft/zur-erhaltung-der-menschheit