Die Benediktsregeln als Grundlage der Klostermedizin
Zwischen Schönlaterngasse und Grashofgasse, unweit von der Rotenturmstraße, liegt das Hofensemble des Heiligenkreuzerhofs, bestehend aus Stiftshof, Prälatur, Kapelle und Zinshaus. Inmitten der Hektik und Touristenströme der Stadt ist der Heiligenkreuzerhof auch heute noch eine Oase der Ruhe. Wer dort verweilt und dabei die Augen schließt, der spürt vielleicht noch die Geschäftigkeit der Mönche im frühen Mittelalter, die auch die Versorgung von Kranken miteinschloss. Regelmäßig begibt sich Hans-Peter Petutschnig bei medinlive auf eine Zeitreise zu den Spuren der alten Wiener Medizin. Dabei gibt es viel zu entdecken.
Die Blütezeit der Klostermedizin dauerte vom 6. bis tief ins 12. Jahrhundert. Vor allem im Früh- und Hochmittelalter war sie integraler Bestandteil des Gesundheitswesens: Medizinisches Wissen wurde durch das Kopieren von antiken Arznei- und Anatomiebüchern von Generation zu Generation weitergegeben. In den Klostergärten wurden Heilkräuter angebaut. Und: Klöster waren durch ihre Steinbauweise und den Lebensstil der Mönche leichter zu reinigen und damit auch hygienischer als die Hütten, in denen Mensch und Tier unter einem Dach lebten.
Klöster waren im Mittelalter also Apotheke, Primärversorgungseinheit und Spital in einem, und das – gemessen an den Möglichkeiten der damaligen Zeit – auch durchaus erfolgreich.
Bereits um 540 bestimmte Benedikt von Nursia in seiner Benediktsregel die Fürsorge für Kranke, Schwache und Arme als eine der Grundlagen des klösterlichen Lebens. Im 36. Kapitel der Benediktsregel heißt es etwa: „Die Sorge für die Kranken muss vor und über alle stehen: Man soll ihnen so dienen, als wären sie wirklich Christus; hat er doch gesagt: Ich war krank, und ihr habt mich besucht, und: Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. Aber auch die Kranken mögen bedenken, dass man ihnen dient, um Gott zu ehren; sie sollen ihre Brüder, die ihnen dienen, nicht durch übertriebene Ansprüche traurig machen. Doch auch solche Kranke müssen in Geduld ertragen werden; denn durch sie erlangt man größeren Lohn. Daher sei es eine Hauptsorge des Abtes, dass sie unter keiner Vernachlässigung zu leiden haben.”
Die Anlehnung an das 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums ist nicht zu übersehen: „Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich besucht. Ich war hungrig, und ihr habt mich gespeist.”
Die Benediktsregel stellte eine wichtige Grundlage für die klösterliche medizinische Tätigkeit dar. Kranke Mitbrüder wurden zudem vom Leitsatz „ora et labora et lege“ ausgenommen, sie durften ausnahmsweise Fleisch essen und so oft baden, wie sie wollten.
Zisterzienserstift Heiligenkreuz
Neben den Benediktinern waren es vor allem die Zisterzienser, die sich besonders um die Krankenpflege annahmen, da sie ebenfalls der Benediktsregel unterstellt waren (der Heiligenkreuzerhof wurde im 12./13. Jahrhundert errichtet und gehört seit dieser Zeit dem Zisterzienserstift Heiligenkreuz). Ein typisches Benediktiner- oder Zisterzienserkloster hatte ein Infirmarium in der Klausur (= Krankenzimmer für Mitbrüder, eine eigene Küche, ein eigenes Bad, Aderlasseinrichtungen), aber oft auch ein eigenes Hospital für Wohlhabendere (Hospitium) sowie eines für Arme (Hospitale Pauperum). Baulich waren die Klöster so angelegt, dass das Dormitorium nie feucht war. Vor dem Essen mussten die Mönche immer im Brunnenhaus die Hände waschen – es ist dies eine der ersten überlieferten Hygienevorschriften im Mittelalter.
Geleitet wurde das Infirmarium durch den sogenannten „Infirmarius“, der auf eine heilkundliche Betreuung auf Basis der Diätetik achtete: Ein rechtes Maß an Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhen, Schlafen und Waschen sollte die Heilung herbeiführen. Krankenbetten wurden regelmäßig aufgeschüttelt, und der Genuss von Fleisch war erlaubt, damit sich neues Blut bilden konnte.
Krankenpflege als „Jenseitsvorsorge“
Kranksein in mittelalterlichen Klöstern hatte also durchaus auch seine angenehmen Seiten, und das dürfte das eine oder andere Mal auch ausgenützt worden sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass es in der Abtei von Cluny in Burgund beispielsweise eine Verordnung gab, wonach jeder Kranke zuerst vor allen Mitbrüdern seinen Zustand erklären musste. Erst wenn diese ihm die Krankheit zugestanden, kam er in den Genuss der Sonderbehandlung. Optische Kennzeichnung: Kranke sollten – egal, welche Krankheit sie hatten – ihren Kopf stets bedeckt halten und einen Gehstock benutzen.
Selbstlosigkeit und Krankenpflege wurden durchaus auch als „Jenseitsvorsorge“ gesehen. Das dürfte mit ein Grund dafür gewesen sein, dass sich viele Mönche auf diesem Gebiet besonders engagierten.
In der Benediktsregel wurden Äbte oft mit Ärzten verglichen.Tatsächlich dürfte das medizinische Wissen der Mönche der damaligen Zeit sehr große gewesen sein. So wurden auf Zisterzienserfriedhöfen beispielsweise Skelette gefunden, die von komplizierten chirurgischen Eingriffen nach Verletzungen zeugen. Und vom Mönchsarzt Notker aus St. Gallen wird berichtet, dass er – so um 950 – den bayerischen Herzog Heinrich I. behandeln hätte sollen. Dieser wollte aber nicht behandelt werden und präsentierte dem Arzt die Urinprobe einer schwangeren Hofdame anstatt seiner eigenen. Notker verfügte jedoch über das medizinische Wissen, das nötig war, um diesen Schwindel aufzudecken. Er prophezeite dem Herzog, er werde in 30 Tagen ein Kind gebären ...
Ende der Klostermedizin
Im 12. Jahrhundert fand dann die „Blütezeit der Klostermedizin“ ein jähes Ende: Mehrere Konzilbeschlüsse, beispielsweise die Synode von Clermont 1130, untersagten Mönchen, sich dem Studium der Medizin zu widmen, und hier insbesondere der Chirurgie. Unter anderem wurde es als höchst problematisch angesehen, dass ein Geistlicher mit dem Abstand von vielleicht nur wenigen Stunden zuerst Blut und dann die heilige Hostie berührte. Außerdem hätte es sich negativ auf das Seelenheil ausgewirkt, wenn ein Patient wegen eines Fehlers des Mönchsarztes verstirbt. Und mit dem Konzil von Tour 1163 wurde dann auch das Aus für die medizinische Ausbildung von Mönchen festgelegt.
Abgelöst wurden die geistlichen Ärzte von sogenannten „Buchärzten“, die als Ärzte erstmals an einer Medizinischen Fakultät akademisch ausgebildet wurden. Die ersten Wiener Buchärzte wurden an oberitalienischen Universitäten promoviert, und hier vor allem Padua. 1413 taucht dann in Wien erstmals der Titel „doctor medicinae“ auf – erworben an der Universität Wien.
Hans-Peter Petutschnig ist seit vielen Jahren für die Pressearbeit und den Verlag der Wiener Ärztekammer verantwortlich. Er ist zudem stellvertretender Kammeramtsdirektor der Ärztekammer für Wien und organisiert zahlreiche kulturelle Veranstaltungen für Ärztinnen und Ärzte. Zusammen mit der staatlich geprüften Wiener Fremdenführerin sowie Kunst- und Kulturvermittlerin Bibiane Krapfenbauer-Horsky hat er das Buch „Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien – Medizinische Spaziergänge durch die Stadt“ verfasst.