Den Verstand verstehen: Ein Pionier aus Wien
Rokitansky, Stellwag von Carion oder Skoda... große Namen, die automatisch mit der Zweiten Wiener Medizinischen Schule verbunden sind. Ein ebenso wichtiger Proponent einige Jahrzehnte später war der Neurologe und Psychiater Otto Pötzl. Er gilt als Vorreiter der kognitiven Neurologie und war einer der ersten Ärzte, die die Psychoanalyse an der Universität verankerten. Sein Todestag jährt sich am 1. April zum 61. Mal.
Freuds Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende und danach galt in manchen Kreisen bestensfalls als fragwürdig, schlechtestenfalls als pure Scharlatanerie. Der 1877 in Wien geborene Otto Pötzl gilt als einer derjenigen, die in der Wissenschaftsgemeinde diesbezüglich eine Vorreiterrolle übernahmen. So war er einer der wenigen Psychiater im deutschen Sprachraum, der an seiner Klinik in Wien eine Vorlesung über die Psychoanalyse eingeführt hatte. Zudem war er selbst 16 Jahre lang, 1917-1933, Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Ein eindeutiges Statement in der damaligen Zeit.
Ein Schlagwort, unter dem er vor allem, aber nicht nur, bei Psychoanalytikern und Psychologen bekannt wurde, sind seine tachistoskopischen Experimente. Damit hatte Pötzl versucht, experimentelle Nachweise für das Funktionieren des Unbewussten zu liefern. Die Tachiskopie ist ein Bereich der Wahrnehmungspsychologie, wo dem Probanden in unterschiedlichen Zeitfenstern visuelle Stimuli geboten werden und deren Eindrücke auf den Probanden untersucht werden.
Es gibt diesbezüglich sogar den sogenannten „Pötzl-Effekt“, wo es darum geht, dass Menschen Stimuli, denen sie im Wachzustand ausgesetz waren, im Traum wiedererleben können. „Das Pötzlsche Phänomen ist experimentell und nicht nur in Träumen immer wieder nachgewiesen worden. Auch durch Tagträume, freie Assoziationen und freie Bildgestaltung, Techniken, die in der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie angewendet werden, läßt sich die Erinnerung an subliminal (unterschwellig, Anm.d. Red.) wahrgenommene Bilder zugänglich machen,“ so der dänische Wissenschaftsjournalist Tor Norretranders.
Otto Pötzl hatte sich aber auch abseits der psychoanalytischen Bewegung einen Namen gemacht, nämlich als Vorreiter der kognitiven Neurologie. Sie ist verkürzt gesagt eine Verquickung oder Schnittstelle von Neurologie und Psychiatrie und beschäftigt sich mit Störungen geistiger Leistungen wie Gedächtnis und Sprache, die durch Erkrankungen des Zentralnervensystems hervorgerufen werden. Früher als Hirnpathologie bezeichnet, publizierte Pötzl „Arbeiten über Störungen der zeitlichen und räumlichen Wahrnehmung, über Verkehrt- und Schiefsehen, kortikal bedingte Polyopsien sowie Störungen des Tiefensehens“. Zudem veröffentlichte er mehrere Monographien: „Über die reine Worttaubheit“ (1919) und „Über die Agraphie“ (mit Georg Hermann, 1926), ein Standardwerk über die Hirnpathologie der Störungen des Schreibens,“ so die „Deutsche Biographie“ der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu Pötzls Publikationen.
Eine wichtige Erkenntnis war außerdem das so genannte Pötzl´sche Syndrom. Dabei geht es um die „reine Wortblindheit-Farbagnosie“, also die Unfähigkeit, Farben zu erkennen und Worte korrekt zu lesen trotz richtigem Buchstabenerkennens. Pötzl erkannte dessen Lokalisation als Folge von Läsionen im Bereich des Gyrus lingualis, einer zungenförmigen Großhirnwindung. Unter anderem habe er „die klassisch lokalistisch eingestellte Neuropathologie weiterentwickelt und zu einem neurophysiologisch orientierten Konzept der großhirnpathologischen Störungen umgewandelt. ‘Über die Beziehungen des Großhirns zur Farbenwelt’ (1958) schloß eine Lücke in der Hirnpathologie,“ so die Kommission dazu.
Pötzls Karriere war jedenfalls eine lange und stabile. Der Höhepunkt war sicherlich seine 17 Jahre dauernde Tätigkeit als Vorstand der Wiener Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik von 1928 bis 1945. Eine Funktion, in der er dem Nobelpreisträger Julius Wagner-Jauregg nachfolgte. Er galt unter anderem als Förderer Manfred Sakels, der die Insulin-Koma-Therapie erfand. Zudem protegierte er die Neurologin Alexandra Adler, die Tochter Alfred Adlers, der die Individualpsychologie begründet hatte. Sie hatte an der Wiener Universität keinen leichten Stand. Unter anderem wurde sie von Wagner-Jauregg, der manchen Neuerungen seines Fachs skeptisch gegenüberstand und schon mit Adlers Vater Zwistigkeiten hatte, übergangen, als es um eine akademische Anstellung ging. Pötzl hielt das für ungerechtfertigt und holte Adler fix an die Universität. Trotzdem wechselte sie 1935 an die Harvard Medical School und blieb ihr Leben lang in den USA.
Während der nationalsozialistischen Diktatur in Österreich war Pötzls Rolle nicht ganz eindeutig. Einerseits wurde er schon 1930 NSDAP-Mitglied und trat etwas später wieder aus, um 1943 erneut eine Mitgliedschaft zu bentragen (die ihm rückdatiert mit 1941 auch gewährt wurde). Andererseits schreibt Wolfgang Neugebauer, Doyen der österreichischen Zeitgeschichte und lange Zeit Leiter des DÖW (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands): „Bemerkenswert erscheint mir, daß der Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Wien Prof. Dr. Otto Pötzl, obwohl Altparteigenosse seit 1930, nicht als besonderer Protagonist der Euthanasie in Erscheinung getreten ist. Viktor Frankl, der 1940- 1942 die Neurologische Abteilung des Jüdischen Spitals leitete, erzählte mir in einem Interview, daß ihm Pötzl immer wieder jüdische Patienten überstellte und damit vor der Euthanasie bewahrte.“
1945 ging Pötzl schließlich mit 68 Jahren in den Ruhestand, galt aber als jemand, der sich auch nach seiner offiziellen Pensionierung noch für sein wissenschaftliches Fachgebiet mit Begeisterung interessierte. Am 1. April 1962, vor genau 60 Jahren, starb Otto Pötzl in seiner Heimatstadt Wien. Sein Ehrengrab befindet sich am Simmeringer Zentralfriedhof.
Biografie
Begonnen hat der 1877 geborene Otto Pötzl seine Karriere 1902 als Hospitant an der II. Psychiatrische Klinik im Alten AKH in Wien, etwas später wechselte er als Universitätsassistent an die I. Psychiatrische Klinik, die damals in der Niederösterreichischen Landesirrenanstalt im neunten Wiener Gemeindebezirk war. Dort blieb Pötzl für drei Jahre, um schließlich wieder an die II. Psychiatrische Klinik zu wechseln, wo sein Mentor Julius Wagner-Jauregg inzwischen die Leitung innehatte. 1911 habilitierte Pötzl sich für Psychiatrie und Nervenheilkunde und wurde 1919 außerordentlicher Professor.
1922 ging er für einige Jahre nach Prag und folgte dem Ruf an die Karl-Ferdinands-Universität als ordentlicher Professor für Psychiatrie. Die heutige Karls-Universität, schon 1348 gegründet, wurde 1882 aufgrund zunehmender nationaler Debatten in eine deutsche und tschechische Hochschule geteilt. Zur Zeit von Pötzls Professur fungierte sie ab 1919 in der Tschechoslowakei unter dem Namen Deutsche Universität Prag.
1928 begann wohl der Höhepunkt seiner Karriere als Arzt und Wissenschaftler: Er wurde als Nachfolger Wagner-Jaureggs, seines Lehrers und Mentors, Vorstand der Wiener Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik und blieb das bis zu seiner Pensionierung 1945.