„Man weiß es einfach viel früher"
Georg Zettinig hat seine Schilddrüsenpraxis in der Wiener Josefstadt 2004 gegründet. Welche Quantensprünge es seither in seinem Fach gab, warum aggressive Schilddrüsenkarzinome de facto ein Fall für die Geschichtsbücher geworden sind und wie Schilddrüsenerkrankungen und Psyche verzahnt sind, erläutert er im medinlive-Gespräch.
medinlive: Sie sind Nuklearmediziner in der Niederlassung und das am jetzigen Standort seit beinah zwanzig Jahren. Was sind die Problematiken, die Ihnen im Ordinationsalltag am Häufigsten begegnen?
Georg Zettinig: Das sind vor allem zwei Sachen: Einerseits die Knoten, die früher eine Volkskrankheit waren. Hier sind vor allem die großen Knoten durch die Jodprophylaxe viel weniger geworden. Und andererseits die Autoimmunkrankheiten, die zugenommen haben, die Hashimoto-Thyreoiditis oder der Morbus Basedow mit den entsprechenden Schilddrüsen-Funktionsstörungen.
medinlive: Warum haben ausgerechnet die Autoimmunkrankheiten so zugelegt?
Zettinig: Das ist im Detail noch unklar, teilweise kommen ja schon Babies mit atopischer Dermatitis auf die Welt. Einerseits wird die Diagnostik besser, Ultraschall hat es zum Beispiel vor 30 Jahren in der der Routinediagnostik noch nicht gegeben und großflächige Blutscreenings sind früher auch nicht gemacht worden. Andererseits ist der Pool der Autoimmunkrankheiten schlicht größer geworden. Umweltfaktoren scheinen auch eine Rolle zu spielen, auch Jod. Viele Autoimmunkrankheiten bleiben ja jahrelang, jahrzehntelang ohne Probleme, aber durch die verbesserte Diagnostik weiß man es einfach viel früher. Es ging einem früher als Betroffener oft lange gut, eventuell ist man sogar damit gestorben ohne davon zu wissen, weil man eben keine gravierenden Beschwerden gehabt hat.
medinlive: Was weiß man heute über die Schilddrüse, was man früher nicht wusste, welcher Wissensstand hat sich über die letzten Jahre etabliert?
Zettinig: Die Bildgebung ist eine völlig andere, mit dem Ultraschall kann man das Gewebe viel besser und genauer sehen, man merkt jede kleinste Veränderung, Entzündungen und so weiter. Auch die Dignität eines Tumors kann man so viel besser beurteilen. Früher war die Szintigraphie die einzige Möglichkeit, mit dem man einen Knoten weiter untersuchen konnte. Mittlerweile geht das mit dem Ultraschall in vielen Situationen sehr, sehr gut.
medinlive: Woher kommen Ihre Patient:innen? Sind das eher Menschen, die zum Beispiel vom Allgemeinmediziner oder Internisten eine Überweisung haben oder kommen sie eher auf Eigeninitative?
Zettinig: Das ist ganz unterschiedlich. Manche werden etwa vom Internisten oder vom Hausarzt überwiesen, ja, andere kommen vom Gynäkologen, weil ja das Kinderwunschthema eng mit der Schilddrüse verzahnt ist. Manche kommen natürlich auch von selbst, weil sie merken, da stimmt etwas nicht.
medinlive: Was wären da klassische Symptome Ihrer Erfahrung nach, wo die Patient:innen sagen, gut, JETZT muss ich aber wirklich zum Arzt gehen?
Zettinig: Einerseits sind das Knoten mit Raumforderung, also etwas, das man spürt und ertastet und zum Beispiel beim Rasieren entdeckt hat. Auf der anderen Seite gibt es natürlich die Schilddrüsenunter- oder Überfunktion. Eine Überfunktion merkt man anfangs als eher angenehme Begleiterscheinung, man ist flotter, aktiver, kann mehr essen ohne zuzunehmen, aber irgendwann kippt es ins Negative. Man bekommt dann Herzrasen, schläft schlecht, ist nervös und hat generell eine innere Unruhe.
Eine Unterfunktion passiert schleichend und tritt mit verschiedensten Symptomen auf, man ist müde, hat ein gesteigertes Kälteempfinden, fühlt sich antriebslos..da können sich viele damit identifizieren, weil es eben sehr unspezifisch ist. Sehr oft wird eine Unterfunktion bei Routinescreenings festgestellt. Auch das ist natürlich anders als vor 30 Jahren.
medinlive: Gibt es bei Schilddrüsenerkrankungen eigentlich eine genetische Prädisposition oder Ähnliches, familiäre Häufungen?
Zettinig: Ja, die gibt es durchaus, gerade bei Autoimmunkrankheiten ist es so, dass diese familiär gehäuft auftreten. Auch bei Knoten gibt es genetische Prädispositionen.
medinlive: Was ist bei der Über- bzw. Unterfunktion der Goldstandard in der Therapie?
Zettinig: Das hängt natürlich von der zugrundeliegenden Erkrankung ab. Bei einer Überfunktion gibt es drei, vier Dinge, die hier in Frage kommen und sozusagen ein „Zuviel“ erzeugen. Es kann zum Beispiel ein funktionell autonomer Knoten sein, ein sogenannter heißer Knoten, den man entweder operieren kann oder mit radioaktivem Jod zerstört. Wenn es sich als Ursache um einen Morbus Basedow handelt, gibt es Thyreostatika als Medikamente, die man circa ein Jahr nimmt und wo man sehr gute Erfolge sieht. Wenn die Überfunktion durch Zellzerfall passiert, wodurch kurzzeitig Gewebe ins Blut ausgeschwemmt wird und der Grund dafür eine Entzündung ist, normalisiert sich das meist von selber wieder und geht dann allerdings oft in eine Unterfunktion über.
Eine Unterfunktion behandelt man normalerweise mit Schilddrüsenhormontabletten, die die fehlenden eigenene Schilddrüsenhormone ersetzen. Auch das funktioniert fast immer sehr gut.
medinlive: Was macht man mit Patient:innen, wo diese Hormone nicht die erwünschte Wirkung haben?
Zettinig: Es gibt manchmal Patient:innen, wo die Einstellung der Medikamente tatsächlich schwierig ist, weil es so schwankende Schilddrüsenwerte gibt. Manchmal sind die Beschwerden nicht durch die Schilddrüse bedingt, sondern haben andere Erkrankungen als Ursache, die ein ähnliches klinisches Bild machen. Das Ziel als Arzt kann jedenfalls nur sein, dass es den Patient:innen genauso gut oder schlecht geht wie schilddrüsengesunden Menschen. Manchmal ist es einfach schwierig herauszufinden, ob die Schilddrüsenerkrankung schon bestehende Problematiken verstärkt hat oder tatsächlich die Ursache dafür sind. Die Beschwerden können eben relativ unspezifisch sein. Es gibt einzelne Menschen, die durch eine Unterfunktion stark zunehmen, Verstopfung oder ein gesteigertes Kälteempfinden haben, auch Niedergeschlagenheit kommt häufig vor. Und diese Symptome verschwinden dann wirklich schlagartig mit der richtigen Therapie. Aber es gibt eben auch Patient:innen, wo die Ursachen für ihre Beschwerden anderswo als bei der Schilddrüse zu finden sind.
medinlive: Zuerst haben wir das Thema Fruchtbarkeit und Kinderwunsch kurz gestreift. In welchem Konnex steht da die Schilddrüse dazu?
Zettinig: Die Schilddrüse spielt eine Rolle bei der Schwangerschaft, einerseits für den Eintritt selbiger und für die Frühschwangerschaft, damit also kein Abort passiert und die Schwangerschaft intakt bleibt. Zudem geht es um die gesunde Entwicklung des Babies.
medinlive: Ein ganz wichtiges Thema ist das schon erwähnte Jod, wozu es meines Wissens ja auch unterschiedliche Meinungen gibt.
Zettinig: Also hier muss man ganz klar sagen: Die Speisesalzjodierung hat das Bild der Schilddrüsenerkrankungen komplett verändert. Diese großen Kröpfe aus der Vergangenheit, die gibt es de facto nicht mehr. Auch aggressive Formen des Schilddrüsenkarzinoms sind Geschichte oder zumindest sehr, sehr selten. Die Karzinome, mit denen wir es heute zu tun haben, haben meist eine exzellente Prognose. Dass die Autoimmunerkrankungen bei der Schilddrüse zugenommen haben, könnte mit der Jodsubstitution in Zusammenhang stehen. Prinzipiell ist die Speisesalzjodierung jedenfalls eine wirklich wichtige Sache.
medinlive: Danke für das Gespräch!
Zur Person
Georg Zettinig ist Gründer und Betreiber der Schilddrüsenpraxis Josefstadt. Er wurde 1994 an der Karl Franzens Universität in Graz promoviert. Seit 2002 ist er Facharzt für Nuklearmedizin, zudem ist er Gründungsmitglied der Österreichischen Schilddrüsengesellschaft. Er hat mehrere Fachpublikationen veröffentlicht, außerdem den Patientenratgeber „Meine Schilddrüse und ich“ (Facultas/Maudrich). Habilitiert hat er sich 2003 zur Chronischen Immunthyreoiditis.