„Es bleibt eben vieles unbearbeitet"
Die enge Verknüpfung von weiblichem Geschlecht und psychischen Erkrankungen? Statistisch ganz eindeutig belegbar. Die Behandlung? Meist von Medikamenten dominiert, denn die so wichtige Psychotherapie ist entweder enorm teuer oder schlicht als staatlich finanzierte Kassenleistung mit monatelanger Wartezeit verbunden. Die Kulturwissenschaftlerin und Buchautorin Beatrice Frasl setzt sich in ihrem Buch „Patriarchale Belastungsstörung“ mit dem Themenkomplex aus Psyche, Geschlecht und Klasse, so der Untertitel des Buchs, auseinander.
Mit medinlive sprach die Autorin unter anderem darüber, warum Frauen soviel häufiger psychisch belastet sind, warum die Frage nach der psychischen Gesundheit eine hochpolitische ist und welche Behandlungswege es neben Medikamenten und Therapie noch gäbe.
Schon das Wort hängt mit dem weiblichen Geschlecht zusammen, eine Erkrankung, die nur Frauen betreffen konnte und die als erste beschriebene psychische Erkrankung gilt: Hysterie. Bereits in der Antike galt die erkrankte Gebärmutter (hystera) als Ursache psychischer Störungen. Kulturgeschichtlich wurde die Hysterie noch lange als Überbegriff und Diagnose für diejenigen Krankheiten verwendet, für die es keine wirklich körperliche Ursache gab.
Zumindest gestand man dem Krankheitsbild ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts zu, keine ausschließlich weibliche Krankheit mehr zu sein. Eine Definition des Psychiaters Paul Möbius gegen Ende des 19. Jahrhunderts lautete, Hysterie seien „alle diejenigen krankhaften Erscheinungen, die durch Vorstellungen verursacht sind“. Mittlerweile ist diese Definition zwar aus den Lehrbüchern verschwunden, sie wirkt aber nach, und das deutlich. Und nach wie vor viel eher auf Frauen gemünzt als auf Männer.
Gerade die Sozialen Medien seien ein gutes Beispiel dafür, wie die Thematisierung von psychischen Erkrankungen passiert, meint Frasl. „Da wären wir wieder bei der Inszenierung des Weiblichen. Männer sprechen in diesem Zusammenhang eher weniger über Angsterkrankungen oder Depressionen.“ Diese Verknüpfung sei also immer noch ganz stark vorhanden. „So genannte `Verrücktheit` und Weiblichkeit wurden derart lange kulturhistorisch und medizinisch verbunden, es darf uns nicht wundern, dass das nicht vorbei ist“, so Beatrice Frasl im Gespräch mit medinlive.
Pensionsgap von 42 Prozent
Sie widmet sich in ihrem Buch „Patriarchale Belastungsstörung“ unter anderem den Ursachen für diesen Konnex. Statistisch ist die Verbindung von Weiblichkeit und psychischen Erkrankungen nämlich gut belegbar. So sind Frauen zum Beispiel von Depressionen doppelt so oft betroffen wie Männer.
Dazu tragen wesentliche Risikofaktoren bei, die Frauen schlicht öfter betreffen: Angefangen bei der Armutsgefährdung und Armutsbetroffenheit, gibt es durch weniger Gehalt (Stichwort Teilzeit) eine größere Schere bei den Pensionen und beim Vermögen. Der Pensionsgap liegt übrigens derzeit bei 42 Prozent. Teilzeit ist ebenfalls zu drei Viertel ein weibliches Phänomen. Und nicht zuletzt werden die großen Brocken wie Kinderbetreuung und Care-Arbeit über weite Strecken von Frauen gestemmt.
„Dieses neoliberale weibliche Selbstbild macht zusätzlich enorm Druck. Wir sind alle stark geprägt von diesem Anspruch: Wenn du es nicht schaffst, dein Leben mit Arbeit, Kindern und allem was dazugehört, problemlos zu stemmen, eine erfüllte Beziehung zu führen, Sport zu treiben, gut auszusehen... dann bist du selbst Schuld. Dann bist du zu schwach. Dieses Bild der Powerfrau ist nach wie vor total präsent.“ Auch Schönheitsnormen mit ihren unerreichbaren Idealen oder Gewalterfahrungen in Beziehungen „sind Themen, von denen überall und weltweit Frauen einfach deutlich öfter betroffen sind als Männer. Und natürlich führt das in Konsequenz dazu, dass Frauen ein belasteteres Leben mit mehr psychischen Erkrankungen haben“, erklärt Frasl.
Deshalb ist das Thema auch ein hochpolitisches: Psychische Erkrankungen sind mitnichten Privatsache, sie sind ganz eng mit den Strukturen unserer Gesellschaft verzahnt. Mit den Anforderungen an Frauen. Die Feministin Frasl will aber Männer dabei keineswegs außen vor lassen, wiewohl sie mit ihrem Buch die Frauen in den Mittelpunkt stellt, denn „Männer haben zum Beispiel eine dreimal so hohe Suizidrate wie Frauen“. Auch das sei einem Ideal aus patriarchalen Strukturen geschuldet. Unverwundbar, stark, autonom... das seien männliche Ideale, die schlicht überfordernd sein können.
Therapieplätze als rares Gut
Der Knackpunkt dabei, der auch Roter Faden des Buches ist: Hilfe zu bekommen ist selbst in einem Land wie Österreich mit einem öffentlichen, niederschwellig zugänglichen Gesundheitssystem nicht leicht. Für beide Geschlechter. Therapieplätze als Kassenleistung sind ein rares Gut und private Plätze für viele schwer finanzierbar. Zudem, kritisiert Frasl, ist es ihrer Erfahrung nach üblich, als alleinige Maßnahme Psychopharmaka verschrieben zu bekommen und das vielfach schon vom Hausarzt: „Es wird zwar durchaus betont und empfohlen, dass man sich zusätzlich in Therapie begeben soll, aber nachdem die Kassenplätze rar sind, bleibt eben vieles unbearbeitet.“
Die Frage, die sich hier stellt: Krank wird man von bestimmten Strukturen, von bestimmten Lebensumständen, von belasteten Leben, was ja auch statistisch ganz deutlich nachzuweisen ist, wenn Menschen in prekären Verhältnissen leben, so Frasl. „Da sollten wir uns fragen, wie sinnvoll es ist, Menschen heimzuschicken in diesselbe Situation wie vorher und ihnen Psychopharmaka zu verschreiben, um genau diese Situation besser zu ertragen, anstatt sich mit den Gründen dafür auseinanderzusetzen.“
Ein biochemisches Verständnis psychischer Erkrankungen seitens der Medizin und die Behandlung mit Psychopharmaka ist zwar sinnvoll, könne aber nicht der einzige Zugang sein, denn psychische Erkrankungen entstehen immer aus einer Gemengelage mehrerer Gründe: „Ich plädiere daher natürlich für mehr Kassentherapieplätze, damit Psychotherapie niederschwelliger zugänglich wird, aber es gibt ja auch noch andere Wege neben Medikamenten und klassischer Psychotherapie, etwa das Social Prescribing“, sieht Frasl hier großes Potential. Das Thema hatte in Österreich zuletzt an Fahrt aufgenommen und wird momentan stärker etabliert, ist aber im ambulanten Setting noch nicht verankert.
Was ist Social Prescribing?
Das Konzept dazu stammt ursprünglich aus England und wird dort seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts etabliert. In Österreich wird dieses Angebot stetig gefördert, wiewohl es bei uns noch eher wenig verbreitet ist. Die Idee dahinter: Menschen etwa mit psychischen Erkrankungen oder Personen, die sozial isoliert sind, werden unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse in ein gemeinschaftliches Tun eingebunden. Social Prescribing wird dabei zusätzlich zu konventionellen Behandlungsmethoden wie Medikamenten oder Psychotherapie angeboten und wird üblicherweise vom Hausarzt verschrieben. Dieser überweist die Patient:innen an so genannte „Link Worker“. Diese „Link Worker“ finden gemeinsam mit den Patient:innen passende Angebote wie etwa gemeinsames Lernen, Gartenarbeit oder Sport. Studien aus England zeigen dabei, dass Social Prescribing nicht nur zu einer Entlastung im ambulanten Bereich und in der Primärversorgung führt, sondern zudem das physische und psychische Wohlbefinden bei den Patient:innen deutlich verbessert.
Einen großen Kritikpunkt sieht Frasl im Fehlen flächendeckender, niederschwelliger Anlaufstellen: Momentan müssen man als psychisch Erkrankter jegliche Hilfe selbst organisieren, viele Telefonate führen und Informationen etwa rund um das Thema Psychotherapie einholen. „Als schwer depressiver Mensch schafft man das einfach nicht, das ist viel zu viel“, ist sich die Autorin sicher. Ihr Wunsch: Eine zentrale Stelle, sozusagen eine Art 1411-Hotline, für psychische Erkrankungen. Die Betroffenen dabei hilft, herauszufinden, welche Therapieform überhaupt Sinn macht und wohin und an wen man sich wenden kann. „Es gibt in Österreich 23 verschiedene zugelassen Therapieformen, von Hypnosetherapie über Verhaltenstherapie bis hin zur Psychoanalyse. Viele Menschen scheitern schon daran, hier jemand Adäquaten zu finden. Es gibt zwar Privatinitiativen wie den psychotherapeutischen Bereitsschaftsdienst, dem man seine Problematik schildert und die dann sofort einen Ersttermin bei einem passenden Therapeuten vereinbaren. Wenn so etwas flächendeckend möglich wäre, wäre das ein großer Schritt.“
Das Buch zum Thema
Frasl, Beatrice: „Patriarchale Belastungsstörung - Geschlecht, Klasse und Psyche", Haymon Verlag, 384 Seiten, ISBN 978-3-7099-8175-7