Algorithmus prognostiziert Ernährungsunsicherheiten
Pandemie, Klimawandel und Extremwetterereignisse haben zuletzt das globale Problem von Ernährungsunsicherheiten verstärkt. Ein Team um Elisa Omodei von der Central European University (CEU) in Wien hat nun ein Prognosemodell vorgestellt, mit dem sie das Auftreten von prekären Ernährungssituationen bei Menschen in sechs Ländern bis zu 30 Tage vorhersagten. Die Studie erschien im Journal „Scientific Reports“.
Im Vorjahr hatte das Team, dem auch Forscher des Welternährungsprogrammes der Vereinten Nationen (WFP) angehören, bereits einen Algorithmus in „Nature Food“ präsentiert, der hilft einzuschätzen, wo sich Menschen in prekären Ernährungssituationen befinden, wenn es kaum Daten über ein Gebiet gibt. „In der aktuellen Studie schlagen wir einen Algorithmus vor, der die Entwicklung des unzureichenden Zugangs zu Nahrung in Ländern, in denen häufig aktuelle Daten zur Verfügung stehen, bis zu 30 Tage in die Zukunft vorhersagen kann“, so Omodei gegenüber der APA. Man müsse die aktuelle Situation kennen, um ihre zukünftige Entwicklung vorhersehen zu können. Das Prognose-Modell eröffnet damit neue Möglichkeiten, prekären Situationen frühzeitig entgegenzuwirken.
Die Forscher entwickelten und trainierten ihren Algorithmus mit WFP-Daten zum Lebensmittelverbrauch aus den Jahren 2018 bis 2021 aus sechs Ländern: Burkina Faso, Kamerun, Mali, Nigeria, Syrien und Jemen - Länder, die jüngst von Ernährungsunsicherheiten stark betroffen waren. Ihr Modell erweiterten sie unter Hinzuziehen von Daten zu Konflikten, Lebensmittelpreisen, Extremwetterereignissen und zum Ramadan.
Hohes Maß an Flexibilität
Ihren Algorithmus nutzten die Forscher, um in diesen sechs Ländern das Auftreten von Ernährungsunsicherheiten in Haushalten zwischen Oktober 2021 und Februar 2022 zu berechnen. Bei der Genauigkeit der Prognosen schnitten jene Länder besser ab, bei denen es eine bessere Datengrundlage gab. Die prekäre Ernährungssituation konnte im Jemen und in Syrien mit einer 99-prozentigen Genauigkeit für den Folgetag vorhergesagt werden, bei der 30-Tage-Prognose betrug die Genauigkeit im Jemen 72 Prozent und in Syrien 47 Prozent.
„Unser Algorithmus hat für Jemen und Syrien gut funktioniert, da wir hier während der Studie mehr Daten - sowohl in Bezug auf die zeitliche als auch die räumliche Abdeckung - hatten“, so Omodei, die davon ausgeht, „dass der Algorithmus auch für die afrikanischen Länder gut funktionieren wird, sobald mehr Daten zur Verfügung stehen“. Regelmäßige Erhebungen über längere Zeiträume und auf subnationaler Ebene steigere die Möglichkeiten für erfolgreiche Vorhersagen. Ihr Prognose-Werkzeug könne bestehende Beobachtungsmethoden ergänzen, heißt es in der Studie, da es schnell verfügbare Vorhersagen auf der Grundlage von Echtzeitdaten liefere.
Die in der Studie analysierten Zeitreihen wurden vom WFP durch tägliche computergestützte Telefonbefragungen erhoben. Für ihr Modell entwickelten die Forscher einen speziellen Algorithmus auf Basis des sogenannten „Gradienten-Boosting“, einem Maschine-Learning-Verfahren, der sich für die Analyse komplexer Phänomene wie der Ernährungsunsicherheit eignet, so Omodei. Zweitens weisen der Ansatz ein hohes Maß an Flexibilität auf, „was sie zum geeignetsten Kandidaten für eine Vorhersageaufgabe macht, die schließlich in nahezu Echtzeit ausgeführt werden soll“. Man könne den Algorithmus täglich automatisch laufen lassen, auch wenn z. B. aufgrund von Verzögerungen bei der Datenverfügbarkeit gewisse Eingabewerte fehlen.
Ziel: Personen in Krisen- oder Notfall-Bewältigungsstrategien
Wenigstens 280 Millionen Menschen waren laut Erhebungen im Jahr 2020 von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Der fehlende Zugang zu sicheren, nahrhaften und ausreichenden Lebensmitteln - sei es aufgrund ihrer fehlenden Erreichbarkeit oder wirtschaftlichen Missständen - ist eine Hauptursache für Unterernährung. Die Bekämpfung von Ernährungsunsicherheiten ist eine zentrale Herausforderung für das Erreichen der UNO-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) bis 2030. Ihr Modell könne methodisch noch verbessert werden, heißt es in der Studie, etwa durch die Integration von Deep Learning-Methoden. Auch habe man sich auf nur einen Indikator von Ernährungsunsicherheit von vielen konzentriert.
„In Zukunft würden wir gerne einen Algorithmus entwickeln, der Personen umfasst, die auf Krisen- oder Notfall-Bewältigungsstrategien zurückgreifen müssen“, so Omodei. So könne man messen, inwiefern die Haushalte dazu gezwungen sind, z. B. weniger bevorzugte oder weniger teure Lebensmittel zu konsumieren, sich mit Lebensmitteln von Verwandten oder Freunden zu versorgen, die Portionen zu begrenzen oder als Erwachsene auch einfach weniger zu essen, damit kleine Kinder essen können.