Helene Wastl: Vergessene Pionierin
Frauen durften sich zwar ab dem Wintersemester 1900/01 an der Medizinischen Universität Wien inskribieren. Von Habilitation war da aber noch keine Rede, zu groß waren die Widerstände. Die erste Frau, der ganze 30 Jahre später die Venia legendi zuerkannt wurde, war Helene Wastl. Die Physiologin galt als Pionierin nicht nur was die männlich dominierte Forschung betraf. Sie war auch international bestens vernetzt und schaffte es, selbst in den USA früh Fuß zu fassen. Im Zuge der NS-Diktatur wurden ihr Doktortitel und Habiliationswürde aberkannt. Helene Wastl wurde am 3. Mai vor 127 Jahren geboren.
„Über die Wirkung des Adrenalins und einiger anderer Inkrete auf die Kontraktionen des Warmblütler-Skelettmuskels“ lautete der Titel von Helene Wastls Habilitationsschrift. Damit suchte sie 1928 um die Lehrbefugnis, also die Venia legendi, an. Und musste zwei Jahre auf deren Bewilligung warten. Ein vergleichsweise langer Zeitraum.
Dem voran ging ein Studium mit Bestnoten und ein Bildungsweg, der durchaus steinig war: „Vor dem Hintergrund ihrer Herkunft aus dem mittleren Beamtentum und der eingeschränkten Möglichkeiten für Mädchen, eine Mittelschule und noch mehr die Universität zu besuchen, ist Helene Wastls Leistung nicht hoch genug einzuschätzen. Die Entscheidung für das Gymnasium und später für die Universität fußte auf überdurchschnittlicher Begabung und sehr gutem Schulerfolg", so Susanne Lichtmannegger in einem Beitrag über Helene Wastl in einem Buch über Tirols weibliche Pionierinnen. Wastls Vater starb zudem, als sie noch das Innsbrucker Staatsgymnasium besuchte. Die Matura bestand sie mit Auszeichnung und war ab dem dem Wintersemester 1916 eine von elf Medizinstudentinnen an der Innsbrucker Universität.
Wastl galt nicht nur als wissenschaftliche Pionierin, sondern auch als eine derjenigen, die sich schon früh einen ungewöhnlichen Mobilitätsradius erobert hatten: So ging sie etwa als unverheiratete 24-Jährige, auch das nicht selbstverständlich, 1920 für ein halbes Jahr ins niederländische Groningen an das hiesige physiologischen Institut. Einige Jahre später forschte sie mittels eines Stipendiums in Cambidge (England). Nach ihrer Habilitation folgten weitere Forschungsaufenthalte quer durch Europa und später in die USA. Aber noch sind wir in Innsbruck.
„Erkenntnis fördernde Schritte“
Dort arbeitete Wastl als „Demonstrator“ unter Ernst Theodor Brücke am physiolgischen Institut. Brücke, der gebürtiger Wiener war und lange in Leipzig arbeitete und forschte, wurde 1916 als Professor für Physiologie und Institutsvorstand nach Innsbruck berufen. Seine Arbeiten gelten heute als maßgeblich im Bereich der frühen Neurobiologie bzw. der Nerven- und Muskelphysiologie. In diesem Umfeld war Wastl also tätig, wurde gefördert und gefordert. Und sie stellte abermals ihren Fleiß und ihre Intelligenz unter Beweis: Alle medizinischen Rigorosen, also die mündlichen Doktorprüfungen, bestand sie mit Auszeichnung. Am 11. Februar 1922 wurde sie schließlich an der medizinischen Fakultät Innsbruck zum Doktor der Medizin promoviert. Damit war sie die zweite Österreicherin, die in Innsbruck diesen Titel erhielt.
Nachdem sie ihr Studium beendet hatte, blieb sie allerdings nicht in Innsbruck, sondern ging nach Wien, ans Institut für Physiologie. Arnold Durig, dessen außerordentliche Assistentin Wastl schnell wurde, hatte den damaligen Lehrstuhl für Physiologie an der medizinischen Fakultät inne. Das Institut galt als äußerst produktiv, mit einem sehr guten Renommee. Durig galt auch als Wastls Mentor und lobte ihre Habilitation als „die Erkenntnis fördernde Schrift mit positiven Ergebnissen, die den Anforderungen, welche an eine Habilitationsschrift zu stellen sind, vollkommen entspricht“. Außerdem hielt er viel auf Wastls pädagogische Fähigkeiten.
Während sich Durig also angetan zeigte, kam Kritik von Roland Grassberger, dem damaligen Vorstand des hygienischen Instituts. Er lobte zwar die Gründlichkeit der Arbeit, sah aber die Form der Darstellung („nicht streng kritisch“) mangelhaft. Nichtsdestotrotz beschließt das Professorenkollegium mit 21 Ja- und drei Neinstimmen die Verleihung der Lehrbefugnis. Am 4. Februar 1930 bestätigt das Unterrichtsministerium die Entscheidung und Helene Wastl ist die erste habilitierte Ärztin Österreichs.
Zwangsausbürgerung und Karriereende
Zu dieser Zeit war Helene Wastls guter Ruf, sicher auch dank ihrer vielen internationalen Kontakte und Forschungsaktivitäten, bis in die USA vorgedrungen. Sie übernahm, nach einigen Studienreisen in Europa, ab November 1931 die Leitung der dortigen Lehrkanzel für Physiologie am Women´s Medical College of Pennsylvania/ Philadelphia. Ein Reitunfall unterbrach ihre Karriere allerdings, denn auch weil nicht sicher war, ob es eine vollständige Genesung geben würde, wurde ihr Vertrag am College nicht verlängert. Weitere Forschungsaufenthalte, etwa an der New Yorker Cornell University, folgten. Ab 1938 forschte Wastl am Hahnemann Medical College, ebenfalls in Philadelphia.
Zwischenzeitlich heiratete 1932 Wastl ihren Kollegen Franz Lippay, der ebenfalls am Physiologischen Institut in Wien gearbeitet hatte. Die Ehe dauerte allerdings nur einige Jahre und Lippay, der in Wien blieb, musste als Vertriebener durch die NS-Diktatur 1938 das Land verlassen. Er landete schließlich in Australien.
Der entgültige Bruch Wastls mit Österreich folgte 1943. Durch die Gesetzgebung der NS-Diktatur wurde sie 1943 aus Österreich ausgebürgert, 1944 erkennt ihr die Universität Wien wegen dieser Ausbürgerung Doktortitel und Lehrbefugnis ab.
Die späten Jahre Helene Wastls sind nicht mehr eindeutig nachzuvollziehen. Ihr Tod wird im Sommer 1948 in den USA vermutet. Aus Aufzeichnungen von Kolleginnen ging hervor, dass sie nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch gelebt haben musste, es ihr damals aber nicht mehr gelungen sei, wissenschaftlich Fuß zu fassen. Die Cornell University beantragte allerdings 1960, der Ärztin ihren Doktortitel und die Habilitationswürde wieder zu verleihen. Die Wiederverleihung scheiterte an Helene Wastls frühem Tod.