Primärversorgungseinheiten
Primärversorgungseinheiten

Hoffnungsträger mit kleinen Mängeln

Primärversorgungseinheiten – ein Wort, das längst medial omnipräsent ist. Gesundheitsminister Johannes Rauch will ihre Zahl gar verdreifachen. Und immer wieder kommt Kritik an der ärztlichen Standesvertretung: Blockieren würde die Kammer die Gesundheitszentren, vor allem aus Eigennutz und zulasten der Patient:innen. Die von Rauch im Frühjahr angekündigte Gesetzesnovelle, mit der er „den Turbo bei der Primärversorgung einlegen will“, ist nun fix. medinlive hat sich die PVE-Thematik aus mehreren Blickwinkeln angesehen.

Eva Kaiserseder/APA

Die Skybar über den Dächern Wiens ist voll bis auf den letzten Platz. Und das trotz des sperrigen Themas der Veranstaltung, nämlich die Finanzplanung bei Primärversorgseinheiten, so genannten PVE. Das Thema brennt den Ärzt:innen unter den Nägeln und sorgt für reges Interesse. Naturgemäß tauchen viele Fragen auf, das Thema verunsichert und besonders viele Best-Practice-Beispiele gibt es österreichweit noch nicht. Trotz eines großen Fördertopfes (so gibt es etwa von der EU rund 100 Millionen Euro an Geldern) und dem politischen Willen, hier „den Turbo einzulegen“, wie Gesundheitsminister Johannes Rauch dazu meinte, sind die Hürden groß. Ein PVE ist und bleibt eine riskante Unternehmensgründung und die vom Regionalen Strukturplan (RSG), also die von der Politik vorgegeben Zahlen, sind längst noch nicht erreicht. 

Das Thema brennt jedenfalls, auch politisch: Seitens der Regierung sind PVE seit Längerem ein favorisiertes Thema im Gesundheitsbereich, versprechen sie doch besseren Service für die Patient:innen, unterschiedlichste medizinische Angebote unter einem Dach und längere Öffnungszeiten. Quasi das Rundum-Paket. Im Gegenzug wird der ärztlichen Standesvertretung eine Blockadehaltung vorgeworfen, sie stehe mit ihrer Skepsis auf der Bremse und würde den PVE-Ausbau verhindern. Dabei „gibt es ein klares Bekenntnis von uns als Ärztekammer, Primärversorgungseinheiten müssen und sollen gefördert werden, besonders in der ländlichen Region“, bekräftigte der Kammeramtsdirektor der Österreichischen Ärztekammer Johannes Zahrl kürzlich in einer Pressekonferenz. Hier seien vor allem PVN, also Ordinationsnetzwerke, die nicht unter einem Dach agieren, aber trotzdem zusammenarbeiten, eine gute Lösung.

Neues PVE-Modell: „Niederschwelliges Angebot für Kinder und ihre Eltern“

Vor allem seitens der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) und ihres Obmannes Andreas Huss kam immer wieder scharfe Kritik an der Ärztekammer: So verhindere die Standesvertretung den Ausbau der kindermedizinischen Ambulatorien in Wien, obwohl es Errichtungsbewilligungen gebe, und wehre sich gegen alternative Versorgungsformen wie Ambulatorien oder Kooperationen mit Krankenhäusern, auch wenn dortige Kassenstellen längere Zeit nicht besetzt werden könnten, meinte Huss in einer Aussendung im Jänner. Die ersten Ausschreibungen der kindermedizinischen Versorgungseinrichtungen, vorerst für Wien, wurden übrigens Ende April aus der Taufe gehoben, ein von langer Hand geplantes Projekt von Kammer und Kasse.

Konkret werden in der Hauptstadt fünf kindermedizinische Zentren und vier Primärversorgungseinrichtungen (PVE) geschaffen, mit mindestens zwei bzw. drei Ärzt:innen. „Für die Kinder und ihre Eltern gibt es damit ein niederschwelliges und umfassendes Angebot – und das mit erweiterten Öffnungszeiten und ohne Schließtage unter der Woche. Die Ärzt:innen wiederum profitieren vom fachlichen Austausch mit der Kollegenschaft. Die attraktiven Arbeitsbedingungen könnten dazu führen, dass auch Wahlärzt:innen der Kinder- und Jugendheilkunde wieder mehr Interesse an einem Kassenvertrag zeigen“, so Erik Randall Huber, Obmann der Kurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Ärztekammer für Wien.

All das läuft über eine Pilotvereinbarung, die für fünf Jahre gilt und bei der nicht nur die ÖGK, sondern auch die Kassen für öffentlichen Dienst/Eisenbahn/Bergbau (BVAEB), die Selbstständigen-Kasse SVS und die KFA der Stadt Wien dabei sind. Pro Einrichtung – je drei in jeder der drei Wiener Versorgungsregionen – sind im Schnitt 1,8 Mio. Euro pro Jahr vorgesehen. Innerhalb der fünf Jahre sollen auch die kleineren Zentren (die quasi als Starthilfe für ärztliche Neueinsteiger gedacht sind) zu vollwertigen PVE aufstocken. Gedacht ist das Modellprojekt, das später auf ganz Österreich ausgerollt und in die entsprechende Bund-Länder-Vereinigung aufgenommen werden soll. Letztlich soll das Ganze auch im PVE-Gesetz verankert werden – auch um entsprechende EU-Fördergelder lukrieren zu können.

„Es scheitert gar nicht“

Zurück zur allgemeinen PVE-Thematik: Hier war medial zuletzt oft die Rede vom Vetorecht der Ärztekammer, von dem angeblich aus Eigennutz Gebrauch gemacht wurde. Und von einem bewussten Hintanhalten der Ausweitung von Primärversorgungseinheiten. Dabei besteht besagtes Vetorecht schlicht darin, dass die Kammer sich gegen eine PVE aussprechen kann, wenn sich keine Ärzt:innen dafür finden ließen, unterstrich ÖÄK-Kammeramtsdirektor Johannes Zahrl bei der Pressekonferenz im Frühjahr. Konkret sagt das Primärversorgungsgesetz dazu, dass den Verhandlungen die Österreichische Ärztekammer und der Dachverband beizuziehen sind, wenn keine Einigung über die Umsetzung der Planungsvorgaben im Stellenplan innerhalb von sechs Monaten erfolgt und auch eine Einladung der Vertragsärzt:innen sowie Vertrags-Gruppenpraxen für Allgemeinmedizin in der im RSG ausgewiesenen Versorgungsregion erfolglos bleibt.

„Die Ärztekammer nutzt hier ihre Vetorechte, um eine Angebots- und Nachfrage-Schieflage zu erzeugen und diese zu ihrem Vorteil zu nutzen", so die Kritik von ÖGK-Obmann Huss dazu. Denn hohe Nachfrage und niedriges Angebot würde zu höheren Honoraren führen, so die von ihm vermutete Strategie. Der Vorwurf, dass die Ärztekammern Schuld an der aktuell zu niedrigen PVE-Zahl in Österreich seien, ist für ÖÄK-Präsident Johannes Steinhart allerdings nicht nachvollziehbar: „Die Ärztekammern haben auch bisher ihr Bestes getan, um die Gründung von PVE zu erleichtern“. Wenn die Rahmenbedingungen allerdings so unattraktiv seien, dass sich keine Ärzt:innen für Kassenstellen finden, dann wird auch ein PVE keinen Turbo einlegen können, so Steinhart weiter.

Woran der Ausbau der PVE tatsächlich scheitert? Gabriella Milinski, die in der Wiener Ärztekammer als Bereichsleiterin der Sektion Allgemeinmedizin und Fachärzte zusammen mit ihrem Kollegen Matthias Schmied für PVE-Gründungen zuständig ist, findet das viel zu kurz gegriffen. „Es scheitert gar nicht, das ist eher der medialen Wahrnehmung geschuldet. Das Thema stößt zumindest, soweit wir es aus Wien sagen können, auf reges Interesse. Aber all die Themen, die im Hintergrund laufen, nehmen viel Zeit in Anspruch, die werden nicht gesehen.“ Heißt: „Es braucht im PVE-Zielgebiet eine passende Immobilie. Einen guten Businessplan. Eine Finanzierung und den entsprechenden Vertrag mit der Bank. Allen voran jedoch muss sich ein Team finden, mitunter eines, dass sich neu findet, mit dem sich so ein Projekt in dieser Dimension stemmen lässt“, erklärt Milinski.

Grundsätzlich formuliert dabei jedes PVE-Team seine Versorgungsschwerpunkte, aber das PVE-Gesetz und die regionalen Vereinbarungen geben verpflichtende Bestandteile vor. Dazu gehören zum Beispiel die Teilnahme am DMP-Programm (Disease-Management-Programme für chronisch kranke Menschen) oder ein Diätologe, der fix an Bord sein muss. „Man gründet ein Unternehmen, und dazu muss eine stabile Basis entwickelt werden, sonst hat es keinen Sinn. Und diese Firmengründung braucht Zeit und birgt auch hohe Risken“, betont Milinski, die in der Kammer Ärzt:innen bei genau diesem Prozess unterstützt.

Infos zum aktuellen Stand

Momentan gibt es 40 Primärversorgungszentren österreichweit. An der Spitze steht hier die Bundeshauptstadt sowie die Steiermark und Oberösterreich. Wien und die Steiermark haben jeweils zehn Primärversorgunszentren in Form einer Primärversorgungseinheit (PVE) an einem Standort. In Oberösterreich gibt es zusätzlich zu acht PVE zwei Primärversorgungsnetzwerke. Der Unterschied: PVN sind nicht an einem Standort gebündelt, sondern auf mehrere Orte verteilt. 

Gesetzesnovelle: Kritik seitens der ärztlichen Standesvertretung

Apropos: Zuletzt sorgte eine geplante Novelle des PVE-Gesetzes, die mittlerweile fixiert wurde, für Hellhörigkeit in der Standesvertretung und unter den Ärzt:innen. Gesundheitsminister Johannes Rauch konnte seinen Plan, die Novelle noch vor dem Sommer durchzubringen, fristgerecht umsetzen. Der Novelle zufolge heißt es etwa, „wird eine Primärversorgungseinheit als Netzwerk, zB in Form eines Vereins, geführt, so kann diese nur aus freiberuflich tätigen Ärztinnen und Ärzten, Gruppenpraxen sowie anderen nichtärztlichen Angehörigen von Gesundheits- und Sozialberufen oder deren Trägerorganisationen gebildet werden.“

Stefan Ferenci, geschäftsführender Vizepräsident und Obmann der Kurie angestellte Ärzte der Ärztekammer für Wien, mahnt hier: „Wir bekennen uns als Ärztekammer Wien klar zum Ausbau von Primärversorgungseinheiten. Es darf aber nicht passieren, dass dadurch einer Konzernisierung zu Lasten des öffentlichen Gesundheitssystems Tür und Tor geöffnet wird“. Zwar beinhalte der Gesetzesentwurf eine Beschränkung auf gemeinnützige Träger, es stehe jedoch zu befürchten, dass gewinnorientierte Investorengesellschaften rasch Umgehungskonstruktionen finden würden.

Auch sei es essentiell, dass PVE langsam und organisch wachsen können. Denn nur dann würde ein solches Konstrukt auch funktionieren. Daher sollten nicht zwingend drei Ärzt:innen für eine PVE-Gründung nötig sein, wie aktuell vorgesehen. Alternativ müsse es auch reichen, wenn sich zwei Kollegen zusammenfinden oder es Inhaber gibt, die oder der einen Arzt oder eine Ärztin anstellt, so die Meinung von Erik Randall Huber, Obmann der Kurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Ärztekammer für Wien.

Trotz Novelle: Die anvisierte Verdreifachung der PVE, die sich der Gesundheitsminister wünscht, scheint kurzfristig jedenfalls utopisch. Denn: 121 PVE soll es bis 2025 in ganz Österreich geben, so die Idee. Bei Stand Juni 2023 sind es 40 derartige Zentren. Die Ärztekammer plädiert jedenfalls für beide Versorgungsformen: Die klassische Einzelordinationen soll weiterhin genauso ihre Daseinsberechtigung haben wie eine PVE, sei es in Form eines Netzwerkes oder unter einem Dach. Die Attraktivität der Kassenmedizin zu steigern, sei jedenfalls der Grundgedanke, der bei allem dahinterstehen muss.

 

Wer hat´s erfunden?

Primärversorgungszentren sind mitnichten eine brandneue Idee: So genannte Ambulante Versorgungszentren, im Kern ganz ähnlich geartet wie die heutigen PVE, waren schon 2007 ein Thema, dass die Ärzteschaft bewegte. Der Grund dafür? Laut einem Entwurf des Gesundheitsministeriums sollten sie jeder Gesellschaftsform, auch berufsfremden Investoren, offenstehen. Das Ergebnis wäre mittelfristig ein viel stärker auf Gewinn und Rendite statt auf ethische Gesichtspunkte ausgerichteter „Gesundheitsmarkt“ gewesen, wogegen die Ärzteschaft vehement protestierte, die von diesen Plänen zudem nur indirekt erfuhr. Federführend für die auch medial sehr sichtbaren Proteste zeichnete damals der heutige Präsident der Österreichischen und Wiener Ärztekammer, Johannes Steinhart.

Als Ergebnis dieses Widerstands wurden die AVZ in der ursprünglich geplanten Form mit möglichen Investorenbeteiligungen vorerst auf Eis gelegt. In einem neuerlichen Anlauf wurde die Thematik 2017 mit dem Primärversorgungsgesetz wieder aufgerollt. Dort ist dezidiert verankert, dass eine PVE an einem Standort nur als Gruppenpraxis oder in Form eines selbständigen Ambulatoriums geführt werden darf.

 

PVE Schild
Die PVE Sonnwendviertel in Wien Favoriten wurde 2021 gegründet.
TOBIAS STEINMAURER / APA / picturedesk.com
 
© medinlive | 02.10.2024 | Link: https://www.medinlive.at/index.php/gesundheitspolitik/hoffnungstraeger-mit-kleinen-maengeln