Menschliches Gehirn orchestriert ohne Dirigent
Während die Hirnforschung vieles über die Funktionsweisen von Nervenzellen zu Tage gebracht hat, tappen Forscher bei einem wesentlichen Thema noch im Dunklen: Nämlich, wie sich das Neuronennetzwerk organisiert. Dabei befasst sich die Hirnforschung immer intensiver mit Phänomenen, die in die Philosophie greifen und damit das Menschenbild ins Wanken bringen.
Rund 20 Jahre nach dem Boom der Neurowissenschaften trat in Forscherkreisen bald Ernüchterung ein. Während einiges über die Architektur der anatomischen Verschaltungen des menschlichen Gehirns entschlüsselt wurde, etwa welche Strukturen für welche Leistungen verantwortlich sind und wie Nervenzellen funktionieren, bleiben wesentliche Fragen weiter offen. „Es gibt ganz enorme methodische und intellektuelle Herausforderungen, denen wir uns im Augenblick stellen,“ wie der deutsche Neurophysiologe und Hirnforscher Wolf Singer kürzlich in Wien erläuterte.
Beziehungen zwischen Neuronen verstehen
Denn aus dem Verständnis der Nervenzellen könne man nicht ableiten wie Verhalten entsteht, so Singer. Daher gilt es zu verstehen „wie Informationen in den Wechselwirkungen zwischen Neuronen kodiert werden und wie die komplexe Dynamik von neuronalen Wechselwirkungen dann zu den Funktionen führt, die wir höhere kognitive Funktionen nennen, also Wahrnehmen, Entscheiden, Planen und schließlich das Phänomen Bewusstsein“, so Singer weiter.
Zentrales Problem dabei ist die hohe Komplexität der Wechselwirkungen. Kein Organ des menschlichen Körpers ist derart komplex wie das Gehirn. In einem Kubikmillimeter Großhirnrinde sind etwa 60.000 Zellen vorhanden. Jede dieser Zellen kann als Oszillator bezeichnet werden, sie kommuniziert mit zehn bis zwanzigtausend anderen Zellen, die wiederum von ebenso vielen Zellen ihre Eingangsverbindung bekommen.
Kombinatorische Explosion der Elemente
Kognitive Systeme - künstliche wie natürliche - brauchen sehr effiziente Mechanismen, um Relationen und Beziehungen zwischen Komponenten zu erkennen, zu kodieren und zu klassifizieren. Grund dafür ist, dass die Vielfalt der Welt auf der Rekombination von relativ wenigen Komponenten (mehr als 90 Atome bilden alles was in unserer dinglichen Welt zu unterscheiden ist, 28 Buchstaben genügen, um die Weltliteratur zu schreiben etc.) beruht. Das Wesentliche liegt also in der Kombination und den Relationen zwischen den Komponenten.
Eine klassische Lösung, wie Relationen und Beziehungen kodiert und erkannt werden, wurde Mitte des letzten Jahrhunderts mit dem Perzeptron (nach engl. perception, „Wahrnehmung“) erfunden. Im Prinzip ist das ein vereinfachtes künstliches neuronales Netz, das in der Grundversion aus einem einzelnen künstlichen Neuron mit anpassbaren Gewichtungen und einem Schwellenwert besteht. Das Modell beruht darauf, dass man am Eingang Detektoren hat, die auf ein Merkmal A oder B spezifisch reagieren und die Aktivitäten dieser Detektoren auf eine Zwischenschicht verteilt, die auch „hidden layer“ genannt wird. Diese divergenten und konvergenten Verbindungen auf den Neuronen dieser Zwischenschicht haben dann wiederum Verbindungen zu einem Element am Ausgang und können nun durch Justierung der Übertragungseffizienz dieser Verbindungen dafür sorgen, dass C nur dann aktiv wird, wenn A und B gleichzeitig der Fall sind. Das Perzeptron folgt einem simplen Prinzip, das zu einer kombinatorischen Explosion der Elemente führt, weil man für jedes beliebige Objekt, das unterscheidbar ist, ein solches Element bräuchte. „Wenn man die Komplexität der Welt berücksichtigt, geht das sehr schnell gegen unendlich“, so Singer.
Dieses Prinzip des Perzeptron ist in allen Nervensystemen realisiert und fast ausschließlich das Prinzip, auf dem künstliche Systeme beruhen. Diese beherbergen zudem eine größere Anzahl an hidden-layers. Durch Justierung sorgt man nach vielen Lernschritten dafür, dass bei einem bestimmten Eingangsmuster ein Element am Ausgang besonders stark anspricht. Der Unterschied zwischen künstlichen und natürlichen System ist zudem die Reziprozität der Verbindungen, denn bei künstlichen Systemen geht der Informationsfluss nur in eine Richtung, wohingegen sich bei der Untersuchung von Gehirnen von Makaken zeigt, dass zwischen den Hirnarealen hunderttausende Nervenfasern liegen, die in tausende Richtungen gehen und ein dicht vernetztes System bilden.
Selbst organisierendes System statt zentraler Instanz
Künstliche Systeme wurden vermutlich auch so gebaut wegen der Annahme, dass unser Gehirn ähnlich organisiert ist und es eine Instanz an der Spitze der Verarbeitungspyramide gibt, die über alle im Gedächtnis gespeicherten und durch Sinnessignale ergänzten Informationen verfügt. Dieser Instanz obläge es, das Geschehen im Körper und der Welt draußen zu interpretieren, daraus Schlüsse zu ziehen, Entscheidungen zu fällen und zukünftiges Handeln zu strukturieren. Aber: „Diese Intuition täuscht radikal, wenn man einbezieht, was die Neurobiologie zutage fördert“, so Singer und weiter: „Die Neurobiologie lässt keine anderen Schlüsse zu, als dass es keine übergeordnete Instanz im Gehirn gibt, sondern dass es sich beim Gehirn um ein distributiv horizontal organisiertes System handelt, das sich selbst organisiert, ohne Dirigent auskommt“, so der Hirnforscher.
Dies werde auch an der Anordnung der verschiedenen Hirnrindenarealen deutlich: Jedes kleine Volumen der Gehirnrinde ist ähnlich aufgebaut, in unterschiedlichen Regionen des Gehirns werden unterschiedliche Aufgaben nach demselben Algorithmus erledigt. Sie unterscheiden sich lediglich dadurch, dass die Sehhirnrinde Informationen von den Augen bekommt und andere Bereiche agieren als etwa bei der Hörhirnrinde, die Informationen von den Ohren „empfängt“; die internen Prozesse laufen aber vermutlich ganz ähnlich ab. Also ein distributiv organisiertes System, in dem ständig eine Vielzahl sensorischer und exekutiver Prozesse parallel ablaufen.
Man kann die Verschaltungen auch beim Menschen gut untersuchen. Bei näherer Betrachtung dieser Verschaltungen von einem Stück Großhirnrinde sieht man, dass die Information von dem Sinnessystem ankommt, auf Zellen trifft, die Aktivität an Zellen in höhere und tiefere Schichten weiterleitet, wobei eine serielle Verarbeitung zu erkennen ist. Aber parallel dazu gibt es andere Verbindungen, die in horizontale Richtung ziehen, andere in benachbarten Regionen anregen und wiederum angeregt werden. Diese machen 80 bis 90 Prozent aller Verbindungen in der Großhirnrinde aus, während in dem Bereich, wo die Welt eingekoppelt wird, die Sinnessignale nur sechs Prozent aller Kontakte aus den Fasern stammen, die direkt und indirekt mit den Sinnesorganen in Verbindung stehen. Alles andere ist eine interne Wechselwirkung. „Also ein extrem autistisches System, das sich mit sich selbst beschäftigt und die Welt ganz lose einkoppelt“, resümiert der Hirnforscher.
Wahrnehmen als Ergebnis eines interpretativen Prozesses
Die Repräsentation eines Dinges oder Objekts in der realen Welt kann man im Gehirn als eine raumzeitlich strukturierte Wolke an Aktivität beschreiben. Komplexe natürlich Systeme können Trennungen und Verbindungen von Objekten erkennen, künstliche Systeme haben dabei Schwierigkeiten. Auch bei manchen neurologischen Krankheiten wie der Schizophrenie ist diese Wahrnehmung gestört. Patienten können nicht erkennen, was zusammengehört oder nicht. Ein Lösungsweg hierfür bestünde darin, dass man die Relationen als zeitliche Relationen definiert, indem man dafür sorgt, dass Nervenzellen, die sich mit dieser Figur befassen, für einen kurzen Zeitraum ihre Aktivität synchronisieren und damit unterscheidbar machen, also werden die räumliche und semantische Relationen in zeitliche Relationen übersetzt.
Wahrnehmen ist im Prinzip das Ergebnis eines interpretativen Prozesses. Dabei geht es um die Speicherung von ungeheuren Mengen an Information und deren Abrufbarkeit innerhalb von Sekunden. Viermal in der Sekunde wechselt das Auge die Blickrichtung, also treffen unterschiedliche Bilder auf die Netzhaut. Die können nur interpretiert werden, weil sie mit dem jeweiligen Vorwissen verglichen und als Ergebnis ausgelesen werden. Warum wir so viel Informationen speichern können, liegt in der Dynamik von rückgekoppelten Netzen. Ein Modell der Welt wird in der Verteilung der synaptischen Effizienzen dieser Milliarden von Verbindungen abgespeichert. So scheint die Großhirnrinde zu funktionieren.
Vor Jahrzehnten sei die Erforschung des Gehirns noch linear und von der Struktur von künstlichen Systemen geprägt gewesen, in denen die Information in der immer gleichen Richtung von einer Eingangsschicht in eine Ausgangsschicht fließt. Würde man diesen Pfaden nur immer weiter folgen, so die Annahme, würde man in absehbarer Zeit die Funktionsweise verstehen. Die Erkenntnis, dass es im Gehirn „gänzlich anders zugeht“, habe zu einer großen Enttäuschung geführt. Für Singer hat das aber auch „etwas Euphorisierendes“, erklärte er kürzlich gegenüber der APA. Die Technologie zur Erforschung der Systeme stehe jetzt zur Verfügung - etwa die Möglichkeit, mit gentechnischen Methoden das gesamte Nervensystem von Zebrafischen in Echtzeit zu beobachten.
Wolf Singer wiederum würde gerne noch im Lauf seines Forscherlebens verstehen, „was die Großhirnrinde macht, um so extrem effizient zu sein, und was das Geheimnis war, warum sie in der Evolution so stark hochskaliert worden ist“, so der Forscher Anfang des Jahres gegenüber der APA. Sie müsse ein Prinzip verwirklicht haben, das auf geniale Weise auf ganz unterschiedliche Problemlösungen anwendbar ist, und „sich radikal unterscheidet von allem, was wir in künstlichen Systemen kennen“.
Wolf Singer studierte Medizin in München und Paris. Er ist Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Hirnforschung (MPI) in Frankfurt, Gründungsdirektor des Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) und des Ernst Strüngmann Institute for Neuroscience in Cooperation with Max Planck Society (ESI) sowie wissenschaftlicher Leiter des Ernst Strüngmann Forums. Seine Forschungsschwerpunkte sind neuronale Grundlagen höherer kognitiver Funktionen.