Hirnforschung
Hirnforschung

Künstliche Gehirnmodelle mit großem Potenzial

Mit den Werkzeugen der Biotechnologie können die Forscher am Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (IMBA) menschliche Entwicklungsstörungen abbilden. Dafür züchten sie künstliche Hirnstrukturen. Die sogenannten Gehirn-Organoide liefern wertvolle Ansätze für das Verständnis und die Behandlung neurologischer Erkrankungen. 

Claudia Tschabuschnig

 86 Milliarden Nervenzellen, die miteinander verschaltet sind machen das menschliche Gehirn zu einem hoch komplexen Netzwerk. Dabei kann eine einzige Nervenzelle wiederum mit bis zu 7.000 anderen Nervenzellen in Verbindung stehen. „Faszinierend dabei ist, dass sich diese Komplexität aus einer Handvoll von Stammzellen entwickeln kann“, beschreibt Nina Corsini, die leitende Wissenschafterin im Labor von Jürgen Knoblich, dem wissenschaftlichen Direktor am IMBA, kürzlich bei einem Vortrag in Wien.

Schwächen der Tiermodelle

Noch beruht der Großteil des Wissens über das menschliche Gehirn auf dem Studium des Gehirns von Mäusen. Doch ist die Forschung an Tiermodellen mit vielen Einschränkungen verbunden, wie die Forscherin aufzeigte. So ist das Mausgehirn viel kleiner und enthält um einiges weniger Neuronen (insgesamt rund 70 Millionen, Anm.) als das menschliche Gehirn. Unterschiede finden sich auch bei der Hirnstruktur. Im menschlichen Gehirn ist etwa die Großhirnrinde expandiert und eingefaltet, während dieser Bereich im Mäusehirn glatt ist. Zudem ist etwa der Bereich für den Geruchsinn bei Mäusen stärker ausgebildet als beim menschlichen Gehirn.

„Eine weitere Besonderheit, die nur im menschlichen Gehirn vorkommt, ist, dass die Entwicklung des menschlichen Gehirns auch nach der Geburt noch nicht vollständig abgeschlossen ist“, erläutert Corsini. „Bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns wandern bestimmte Arten von Zellen in die Großhirnrinde und vernetzt sich dort mit anderen Nervenzellen. Dieser Prozess findet spezifisch nur im Menschen statt und kann somit im Mausmodell nicht studiert werden“, so die Wissenschafterin. 

Hier kommen Gehirn-Organoide ins Spiel. Aus menschlichen Stammzellen hergestellt, können sie gewisse Aspekte des Gehirns nachbilden. Gehirn-Organoide werden zur Untersuchung von Schizophrenie und Autismus herangezogen. An ihnen lässt sich etwa untersuchen warum manche Babys kleine Gehirne entwickeln, wenn sie im Mutterleib mit dem Zika-Virus infiziert werden.

Die Forschung am IMBA dreht sich um Vorgänge, die im menschlichen Gehirn stattfinden. Dafür wird vor allem auf vier Werkezuge zurückgegriffen, die allesamt eine Revolution in der Biomedizin darstellen:

  • Die Sequenzierung des menschlichen Genoms, wodurch sich Mutationen in Genen feststellen lassen.
     
  • Die Entdeckung der IPS-Zellen (induzierte pluripotente Stammzellen, Anm.). Dabei handelt es sich um Körperzellen, etwa aus einer Blut- oder Hautprobe, die nach einer Methode von Shinya Yamanaka zu Stammzellen umprogrammiert werden können. Yamanaka entdeckte, dass der Zustand jeder Zelle darüber reguliert ist welche Eiweiße sie exponiert. Werden diese Eiweiße reguliert und durch Viren in andere Zellen eingebunden werden, können sich diese Zellen in Stammzellen umwandeln und im weiteren Schritt in verschiedene Zelltypen wie Nerven- oder Muskelzellen differenziert werden.
     
  • Die Entwicklung der sogenannten Genschere CRISPR/Cas9. Die Technologie erlaubt es bestimmte Mutationen in das Genom einzufügen oder diese zu reparieren.
     
  • Die Herstellung von Organoiden aus Stammzellen. Aus pluripotenten iPS-Zellen wird ein Neuroektoderm (das Neuroektoderm ist der Teil des äußeren Keimblatts/Ektoderm, aus dem sich in der Embryonalentwicklung das Nervensystem entwickelt, Anm.) erzeugt. Die Stammzellen wachsen in einer Gewebskulturschale, werden entnommen und verklumpen sich zu einem Zellhaufen, den man auch Embryoid bodies nennt. Dann kommen die Organoide in eine Substanz namens Matrigel (eine komplexe Mischung von Biomolekülen, die in der 3D-Zellkultur als Wachstumsgrundlage - Matrix, Zellsubstrat - verwendet wird, Anm.), in der sie sich entwickeln. Dort kommen die Organoide in ein Stadium, in dem sie histologisch wie ein menschliches Gehirn aussehen, anatomisch allerdings nicht.

Eine Krankheit, die mit Hilfe von Gehirn-Organoiden studiert wurde, ist die Mikrozephalie. Wegen eines Defekts in frühen Phasen der Gehirnentwicklung ist diese Erkrankung in der Regel mit geistigen Behinderungen aufgrund eines zu kleinen Gehirns verbunden. Anhand der Organoide entdeckten die Forscher, dass sich die Vorläuferzellen zu früh in Nervenzellen differenzieren und dadurch das Gehirn-Organoid kleiner bleibt und damit auch das Gehirn des Patienten. 

Forschung an genetischer, multisystemischer Krankheit

Derzeit wird im Labor von Knoblich die Tuberöse Sklerose untersucht. Dabei kooperiert das IMBA mit dem Wiener AKH. Bei der Tuberöse Sklerose, einer genetischen Krankheit, sind mehrere Organe, unter anderem das Herz und die Niere, betroffen. Aus Sicht der Forscher war vor allem die Pathologie im Gehirn relevant, denn die Patienten leiden an einer Epilepsie, die oft schwer zu behandeln ist. Zudem treten eine Reihe anderer Symptome auf, wie Intelligenzminderung, Autismus oder ADHS.

Um die Krankheit zu erforschen wurden alle biomedizinischen Instrumente (siehe Infokasten) verwendet. Zunächst wurde das Genom der rekrutierten Patienten untersucht. Dabei entdeckten die Forscher eine Genmutation namens TSC. Während gesunde Menschen zwei Kopien von diesen Proteinen besitzen, waren in den rekrutierten Patienten nur jeweils eine Kopie dieses Proteins vorhanden. 

Bei der Tuberösen Sklerose haben Patienten Veränderungen im Gehirn, die auch im MRI diagnostizierbar sind, nämlich Tumore, die sogenannten Subependymale Riesenzellastrozytome (seltene gutartige Hirntumore, die unterhalb des Ependyms wachsen und insbesondere bei der tuberösen Sklerose auftreten, Anm.) und die kortikalen Tubera (Gliawucherungen im Bereich der Hirnrinde, Anm.). 

Nachbildung der Pathologien dieser Krankheiten in Organoiden möglich

Um diese Krankheit weiter zu erforschen wurde den Patienten Blut entnommen, diese zu Stammzellen umprogrammiert und mit Hilfe der CRISPR Cas9 Genschere die Mutation repariert und Gehirn-Organoide hergestellt. Dabei wurden in den Organoiden die gleichen Veränderungen und eine identische Struktur gefunden, wie sie auch im Gehirn der Patienten auftrat. Des Weiteren wurden Areale entdeckt, die große Ähnlichkeit mit den Tubern aufweisen. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass sie in den Organoiden die Pathologien dieser Krankheiten nachbilden konnten. 

Im nächsten Schritt wurde erforscht welche Vorläuferzellen für diese Erkrankung verantwortlich sind. Dabei wurde eine Technik namens Einzelzell-RNA-Sequenzierung angewendet. Die Eiweiße, die eine Zelle herstellt, fungieren dabei wie eine Visitenkarte für diese Zelle. Sie sagen etwa um welchen Zelltyp (Vorläuferzelle, Nervenzelle o.ä.) es sich handelt. Mit der Einzelzell-RNA-Sequenzierung konnte also die Signatur dieser Zelle gelesen werden. Dabei machten die Forscher eine besondere Entdeckung.

Meilensteine der Organoid-Forschung

2013 gelang Forschern um Jürgen Knoblich vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) in Wien ein Durchbruch. Sie stellten erstmals, kleine, kurzlebige Gehirn-Organoide her (Lancaster und Knoblich, 2014). Gehirn-Organoide, bei denen sich menschliche Zellen in der Petrischale zu hirnähnlichen Strukturen formieren. Sie werden verwendet, um Schizophrenie und Autismus, Parkinson oder auch Augenerkrankungen zu untersuchen. 2018 wurden am IMBA die weltweit ersten Organoide für Blutgefäße entwickelt, die es nun ermöglichen, Volkskrankheiten wie Diabetes zielgerichtet zu studieren.

Das Institut für Molekulare Biotechnologie GmbH (IMBA) ist ein Forschungsinstitut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) , das Grundlagenforschung in den Bereichen der Molekularbiologie und Biomedizin betreibt. Es genießt mittlerweile Weltruf in der Stammzellforschung. Die Stammzellinitiative am IMBA wird durch eine Förderung des Bundesministeriums für Wissenschaft sowie durch die Stadt Wien finanziert.

Nina Corsini
Die Biochemikerin Nina Corsini ist leitende Wissenschaftlerin im Labor von Jürgen Knoblich.
©IMBA/Sandra Schartel
Querschnitt eines vollständigen zerebralen Organoids © IMBA / Madeline Lancaster
Querschnitt eines vollständigen zerebralen Organoids, der die Entwicklung von verschiedenen Gehirnregionen zeigt. Neurale Stammzellen sind in rot und Neuronen in grün hervorgehoben.
© IMBA / Madeline Lancaster
Mäusehirn Menschenhirn
Fast alles, was man über die Entwicklung des Gehirns weiß, wurde an Mäusehirnen untersucht, dabei ist das Mäusegehirn (l.) viel kleiner und enthält weit weniger Neuronen als ein menschlichtes Gehirn (r.).
Elizabeth Atkinson, Washington University in St. Louis
Mikrozephalie
Die Mikrozephalie ist eine Entwicklungsbesonderheit beim Menschen, bei der der Kopf eine vergleichsweise geringe Größe aufweist.
(2004) Evolutionary History of a Gene Controlling Brain Size. PLoS Biol 2(5): e134. doi:10.1371/journal.pbio.0020134
 
© medinlive | 02.10.2024 | Link: https://www.medinlive.at/index.php/wissenschaft/kuenstliche-gehirnmodelle-mit-grossem-potenzial