„Als medizinischer Mensch sollte man mit gutem Beispiel vorangehen“
Ursula Wiedermann-Schmidt ist Professorin für Vakzinologie und Leiterin des Instituts für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der MedUni Wien. Im Gespräch mit medinlive erklärt sie die verschiedenen Ansätze bei der Impfung gegen Corona, welche Anforderungen an den Impfstoff gestellt werden, wie es zu der schnellen Zulassung kommen konnte und warum noch viel Aufklärungsarbeit notwendig, es dennoch aber eine hoffnungsvolle Situation ist.
medinlive: Was genau sind die Anforderungen an einen Corona-Impfstoff? Ist es das Ziel der Impfung, vor einer Erkrankung zu schützen oder vor einer Infektion?
Wiedermann-Schmidt: Es gibt verschiedene Impfziele. Die höchste Priorität besteht zunächst, vor einer Erkrankung, insbesondere vor einer schweren, zu schützen. Auf lange Sicht möchte man natürlich durch die Impfung auch eine Infektion und eine Weitergabe, Transmission, verhindern. Weitere Aspekte sind zudem, dass alle geschützt werden, die besonders exponiert sind und dass das gesamte Gesundheitssystem sowie das öffentliche Leben aufrechterhalten werden kann. Das sind die vier definierten Impfziele.
medinlive: Wie sieht es mit diesen Impfzielen bei den Impfstoffkandidaten aus, die sich derzeit in Phase III befinden oder sogar schon von einigen Ländern zugelassen wurden?
Wiedermann-Schmidt: Bei den Impfstoffkandidaten, die sich gerade in der Phase III der Studien befinden oder diese abgeschlossen haben, waren die absoluten Ziele, die sogenannten Endpunkte, zu beweisen, dass die Menschen nicht oder nicht schwer erkranken. Nicht nachgegangen in dieser Testsituation ist man der Frage, inwiefern auch eine sterile Immunität, eine Weitergabe des Virus, entwickelt wurde. Das sind Endpunkte, die momentan nicht in den Lizenzierungsstudien inkludiert sind. Daher ist es schwer, eine Aussage darüber zu treffen. Die Hoffnung ist, dass die Impfstoffe dies auch beeinflussen können. Ich weiß aber von einigen Impfstoffkandidaten, dass diese Parameter, also die Transmission, in den Testungen inkludiert sind. Dabei müssen bei den Geimpften regelmäßig Abstriche gemacht werden, um zu prüfen, ob es eine Viruslast gibt. Ich gehe davon aus, dass wir in den nächsten Monaten diesbezüglich auch mehr Daten haben werden. Es gibt bereits nicht-humane Primatenstudien, die gezeigt haben, dass eine sterile Immunität indiziert wird, aber natürlich können diese Studien nicht eins zu eins auf Menschen übertragen werden, daher gibt es hier noch Fragezeichen. Dennoch das Ziel Nummer eins ist, nicht zu erkranken und dies zeigen die Impfstoffe sehr eindrucksvoll.
medinlive: Wieso ist die Frage der sterilen Immunität eigentlich wichtig?
Wiedermann-Schmidt: Das ist wichtig, weil es die Impfstrategie auf Populationsebene beeinflusst. Wenn es einen Impfstoff gibt, der nicht nur selber schützt, sondern auch eine Transmission verhindert, werden auch Bevölkerungsgruppen in die Überlegung miteinbezogen, die besonders für die Weitergabe der Infektion verantwortlich sind. Zum jetzigen Zeitpunkt konzentriert man sich vor allem auf ältere Menschen und das Gesundheitspersonal, welches besonders exponiert ist und nicht erkranken sollte, damit das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Die Anpassung der Impfstrategie wird ständig erweitert, Hand-in-Hand-gehend mit der Verfügbarkeit der Impfstoffe.
medinlive: Es ist ein dynamischer Prozess, da natürlich auch mehr Informationen bezüglich der Impfstoffe benötigt werden. Das heißt, die Impfstrategie zum jetzigen Zeitpunkt konzentriert sich darauf, vulnerable Gruppen, die schwer erkranken können, zu schützen?
Wiedermann-Schmidt: Ich gehe davon aus, dass es ein kontinuierlicher Prozess sein wird, auch bezüglich der Daten. Momentan sind im Zulassungsprozess jene Impfstoffe, die hinsichtlich der Erkrankung schützen. Hier wurde ein Altersspektrum zwischen 18 und 80 Jahren berücksichtigt und die Daten zeigen, dass der Impfstoff überall gleich gut ist, also eine Immunogenität schafft und Erkrankung verhindert. Die Aspekte, ob die Transmission beeinflusst wird, wie lange der Schutz anhält oder wie oft man impfen muss, werden kontinuierlich weiter erfasst und dementsprechend müssen die Impfempfehlungen ständig erweitert und verändert werden.
medinlive: Welche unterschiedlichen Impfansätze gibt es bei der Corona-Impfung?
Wiedermann-Schmidt: Es gibt vier Kategorien von Impfstoffen, wobei zwei kurz vor der Zulassung stehen bzw. diese auch schon erhalten haben. Diese sind die sogenannten messenger RNA-Impfstoffe (mRNA). Der Grund, warum diese bei der Entwicklung so weit fortgeschritten sind, ist, dass diese Impfstoffe schon vor vielen Jahren beim Auftreten von SARS-1 und MERS entwickelt wurden bzw. in anderen Bereichen wie bei der Krebstherapie zur Testung kamen, jedoch noch keine Zulassung erhalten hatten. So konnte aber auf bereits bekannte Plattformen zurückgegriffen und rasch adaptiert werden. Die Tatsache, dass es noch keine Zulassung für einen mRNA Impfstoff gab, macht offenbar manchen Menschen Angst, denn es ist neu und in diesem Zusammenhang wird auch immer wieder von DNA-Veränderungen und dergleichen gesprochen.
Es ist also besonders wichtig, richtig aufzuklären und zu betonen, dass diese Impfstoffe per se nicht gefährlich sind. mRNA ist eine Vorstufe, bevor ein Protein in einer Körperzelle umgeschrieben wird. Diese mRNA-Stücke werden in unseren Körperzellen in den Produktionsstätten für Proteine, sogenannte Ribosomen, umgeschrieben. Das heißt, es wird der genetische Code umgeschrieben und die Ribosomen können diese Information in Proteine umwandeln und daraus entsteht ein neues Protein. Dieser Umschreibungsprozess findet nicht im Zellkern statt, sondern im Zytoplasma der Zelle. Das ist wichtig, um zu verstehen, dass mRNA nicht in den Zellkern gebracht und das menschliche Genom in keinster Weise beeinflusst wird.
Der dritte wichtige Faktor ist, wie diese mRNA beliefert wird: Sie werden in sogenannte Lipidpartikel verpackt, damit es zu einem Aufnahmeprozess in einer Zelle kommt. Man spritzt den Impfstoff intramuskulär und die Zellen, die sich dort befinden, nehmen es auf. Durch die Lipid-Hülle kommt es zu einer Verschmelzung mit der Zellmembran der menschlichen Zelle. Die mRNA wird dann weiter in die Ribosomen geschleust. Durch die Impfung werden also sogenannte Spike-Proteine, die Oberflächenproteine des Coronavirus, produziert, dem Immunsystem dargereicht und dieses kann Antikörper bzw. eine zelluläre Immunantwort aufbauen. Es wird also eine bestimmte Menge an mRNA injiziert und auch wieder rasch abgebaut, deswegen muss das Immunsystem auch rasch auf die verabreichte Dosis reagieren. Die Angst, dass davon etwas im Körper übrigbleibt, ist vollkommen unbegründet. Ich finde dieses Konzept wirklich sehr positiv, auch weil die Produktion der mRNA ein eher einfacher Prozess ist und im Labor rasch in einer dauerhaften stabilen Qualität generiert werden kann. Es braucht keine zusätzlichen Adjuvantien, keine besonders große Menge des Impfstoffs, da der Impfstoff per se von der menschlichen Körperzelle selber gemacht wird.
medinlive: Das klingt alles sehr gut, dennoch gibt es auch viele kritischen Stimmen zu der Verwendung und der raschen Entwicklung solcher Impfstoffe.
Wiedermann-Schmidt: Ich finde, neben all dem Leid und Negativen, das diese Pandemie mit sich bringt, dass der Aufschwung, den die Impfstoffentwicklung erfahren hat, etwas sehr Positives ist. Ein Technologieschub, der eigentlich schon lange notwendig gewesen wäre, und offensichtlich nur durch extremen Druck sowie der absoluten Notwendigkeit eines Impfstoffs entstand. Ich stehe diesem mRNA-Impfstoff sehr positiv gegenüber, wenngleich es notwendig ist, die Nebenwirkungen genau zu erfassen und zu verfolgen und ebenfalls genau zu beobachten, welche Daten die Studien liefern. Aber bei einem Studienkollektiv mit mehr als 40.000 Probanden wurden bereits viele Daten generiert und auch seltenere Nebenwirkungen erfasst. Und natürlich muss der Impfstoff bei der Einführung gut mit fortlaufenden Sicherheitsevaluierungen begleitet werden. Das sind klare Erfordernisse, die für jedes neu zugelassene Arzneimittel gelten.
medinlive: Welche Kategorien von Impfstoffen gibt es noch?
Wiedermann-Schmidt: Die zweite Kategorie sind Vektorimpfstoffe. Eigentlich sind es drei Vektoren, die verwendet werden. Einerseits die Kategorie der sogenannten Adenoviren, die als Transportgestell für die Produktion von Impfantigenen genutzt werden. Dabei werden Erreger so modifiziert, dass sie andere Virusantigene selbst produzieren. Bei den Adenoviren gibt es nicht-humane, die von Schimpansen abstammen. AstraZeneca verwendet diese Schimpansen-Adenoviren. Dann gibt es humane Adenoviren, wie zum Beispiel der Konzern Johnson & Johnson ihn verwendet. Es ist jedoch anzunehmen, dass ein solcher Impfstoff in absehbarer Zeit seine Zulassung erreichen wird – wenngleich es in England Anwendungsprobleme, was die Dosis betrifft, in der Studie gegeben hat, was doch einen zeitlichen Rückschlag in solchen Prozessen bedeutet. Weitere solche Viren, die als Träger oder als Vektorenviren verwendet werden können, sind Masernviren, wie auch bei unserem bekannten Masern-Mumps-Rötel-Impfstoff. Bei diesen Kandidaten hat die Phase III aber noch nicht begonnen. Es gibt aber bereits andere Impfstoffkandidaten gegen das Chikungunya-Virus oder Zika-Virus, die auf dieser Basis aufbauen, welche gerade in Phase III laufen und ein gutes Sicherheitsprofil zeigen. Dann gibt es noch Impfstoffkandidaten, die entweder das gesamte Virus als inaktiviertes Virus verwenden, das kennt man von Impfungen gegen Hepatitis A zum Beispiel. Auch eine Möglichkeit ist es, nur die Oberflächenantigene zu verwenden, also in der Regel Spikeproteine oder Untergruppen, die mit bestimmten Adjuvantien versetzt werden. Diese dauern aber noch in der Entwicklung, da rechne ich mit einer Zulassung eher erst in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres.
medinlive: Es gibt also einige Impfstoffe, die gerade entwickelt werden.
Wiedermann-Schmidt: Ja, es gibt eine ganze Armada an Impfstoffen, die wir erwarten können. Das ist sehr gut, weil wir uns nicht nur auf einen Impfstoff konzentrieren müssen und zudem die Möglichkeit haben, die Impfempfehlungen dem Impfstoff entsprechend adaptieren zu können. Wir haben also gute Wahlmöglichkeiten. Durch die Impfungen wird sich die Situation nicht von einem Tag auf den anderen verändern, dennoch gibt es jetzt neue Perspektiven. Auch den Kolleginnen und Kollegen möchte ich sagen, dass sie hier das Positive sehen sollten, dass nämlich viel Know-how zusammengekommen ist. Es sind nicht die Studien oder deren Qualitäten beschnitten worden, sondern die Prozesse rundherum. Wir alle können unseren Patientinnen und Patienten Hoffnung geben, nicht das Blaue vom Himmel versprechen, aber gute Informationen weitergeben und Sorgen und Bedenken mit Aufklärung begegnen. Natürlich ist eine gewisse Achtsamkeit hinsichtlich der Daten notwendig, aber dementsprechend gibt es auch Empfehlungen der Gesundheitsbehörden hinsichtlich der Impfung.
Aktuelle Empfehlungen des Gesundheitsministeriums zur COVID-19-Impfung
medinlive: Was wird eigentlich genau bei der Zulassung eines Impfstoffs geprüft?
Wiedermann-Schmidt: Der erste Schritt ist eine europäische Zulassung. Die Firmen müssen Daten, die Sicherheit, Dosierung, Immunogenität und Wirkung umfassen, vorlegen – das ist immer das gleiche Grundprinzip. Bei der Covid-Impfung wurde auch von vornherein festgelegt, dass die Phase III-Studien sehr groß angelegt werden müssen, also nicht nur ein paar Tausend Probanden, sondern gleich mehrere Zehntausend umfassen müssen, um seltene Nebenwirkungen gleich in der Studie sichtbar zu machen. Zudem wurde in diesen Zulassungsverfahren erstmals erlaubt, Zwischenreporte, sogenannte Interims-Reports, von jeder Phase bereits vorab an die Europäische Arzneimittel Agentur (EMA) zu schicken, sodass diese in einem Rolling Review gleich begutachtet werden können. Normalerweise wird das gesamte Datenkonvolut erst nach Abschluss aller Studien weitergegeben. Mit diesem Verfahren kann schneller und effizienter gearbeitet werden, da eine ständige Kommunikation zwischen Behörde und Firma herrscht.
medinlive: Wie funktioniert die Zulassung in Österreich?
Wiedermann-Schmidt: In Österreich ist es die Abteilung für Arzneimittelsicherheit beim Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen, wo es zu Chargen- und Logprüfungen kommt. Auch die nationalen Behörden prüfen also noch einmal das Produkt nach Herstellung, Dosierung und Daten. Im Fall von Corona hat sich die nationale Behörde von Anfang an entscheiden, den Prozess der EMA zu begleiten und zu unterstützen. Sie sehen, es sind hier viele Stufen, die durchlaufen werden und gemeinsam intensiv prüfen, bis das Produkt wirklich verfügbar ist. Nach diesen Schritten prüft zudem noch einmal das nationale Impfgremium alle Daten und entscheidet, wie nach allen den vorliegenden Kriterien die Impfempfehlung für das jeweilige Land aussehen soll. Das sind Abläufe, die ein geordnetes Vorgehen gewährleisten. Die Aussage, dass übermorgen 50 Prozent der gesamten Bevölkerung geimpft werden sollen, ist einfach nicht zutreffend – es wird ein laufender Prozess sein, der aber im besten Fall zu einer hohen Durchimpfungsrate im Laufe des nächsten Jahres führen soll.
medinlive: Hinsichtlich Durchimpfungsrate ist Österreich, Stichwort Grippeimpfung, kein Musterland. Wie und wo kann man ansetzen, um der Impfskepsis zu begegnen?
Wiedermann-Schmidt: Zunächst muss man aufklären, welche Impfungen es gibt. Dann muss man als Ärztin oder Arzt fragen, wovor die meiste Angst besteht? Als Antwort werden oft die Nebenwirkungen genannt. Bei der Zulassung jedes Impfstoffs steht ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis für jede Personengruppe. Sollten die Behörden Sorge haben, dann bekommt ein Impfstoff keine Zulassung. Bei keinem Arzneimittel, welches auf den Markt kommt, ist es möglich, zu sagen, ob es eventuell in drei Jahren zu besonderen Nebenwirkungen kommt. Jedoch werden alle möglichen Nebenwirkungen kontinuierlich in entsprechenden Pharmakovigilanz-Studien begleitend erfasst. Es gibt auch die Möglichkeit, als Ärztin oder Arzt und als Patientin oder Patient solche Nebenwirkungen zu melden, um direkt mit der Arzneimittelsicherheitsbehörde in Kontakt zu treten. Es können bei Impfungen oder Medikamenten immer wieder seltene negative Wirkungen/Nebenwirkungen auftreten, welche nicht durch Studien bekannt sind, und diese sollten auch unbedingt gemeldet werden. Leider gibt es viele Ärztinnen und Ärzte, die gerade auch bei der Grippeimpfung nicht die notwendige Aufklärungsarbeit leisten. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die selbst nicht gegen die Grippe geimpft sind und dieses Verständnis auch ihren Patientinnen und Patienten weitergeben. Wir müssen also einfach mehr aufklären, gerade bei der Grippe wird durch die Impfung auch die Transmission beeinflusst. Hier beginnt für mich die Stimmungsmache in der Bevölkerung und ich als Ärztin oder als medizinischer Mensch sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Ich habe die Verpflichtung, nach Wissen zu agieren und nicht nach meinem Bauchgefühl. So können wir in unserem Beruf sehr, sehr viel wettmachen, weil die Ablehnung gegen Impfungen oft mit Nichtwissen und Angst zu tun hat.
medinlive: Die Menschen haben die Hoffnung, dass mit der Impfung wieder ein „normales“ Leben möglich sein wird. Teilen Sie diese Hoffnung?
Wiedermann-Schmidt: Es ist sehr schwierig, mit der Situation umzugehen. Die einen sagen, wann wird es endlich wieder besser, und die anderen fragen sich, was wird hier mit uns gemacht. Ich selbst sehe Impfungen als die beste Waffe gegen Infektionskrankheiten und denke, dass wir alle mit Beginn der Impfungen wieder Grund zur Hoffnung haben, dass wir dieses Virus endlich in den Griff bekommen – vorausgesetzt es machen viele mit!