Medizinhistorische Streifzüge – Folge 11

Die Anfänge der universitären Lehre

Ab wann kann man von einer wissenschaftlich-medizinischen Lehre in Wien sprechen, wo fand (wahrscheinlich) die erste Leichenöffnung im deutschsprachigen Raum zur anatomischen Demonstration statt und welchen unglücklichen Bezug dazu hatte ein gewisser Konrad Praitenauer? Regelmäßig begibt sich Hans-Peter Petutschnig bei medinlive auf eine Zeitreise zu den Spuren der alten Wiener Medizin. Dabei gibt es viel zu entdecken, längst Vergangenes, mitunter Skurriles, Schockierendes oder auch Prägendes, oft gut verborgen unter baulichen Veränderungen der letzten Jahrhunderte. In dieser Folge: Die Anfänge der universitären Lehre.

Hans-Peter Petutschnig

Im Stiftungsbrief der „Alma Mater Rudolphina“ vom 12. März 1365 sah Rudolf IV. die Reservierung des Stadtteils zwischen Schotten-, Herren- und Schauflergasse als sogenannte „Pfaffenstadt“ vor. Es sollte ein eigenes Universitätsviertel werden.  Allerdings regte sich massiver Widerstand seitens der Bürger, der dazu führte, dass Rudolf IV. seine Pläne wieder zurückziehen musste. Die Universität – deren Gründungsmitglied die Medizinische Fakultät war – kam dann provisorisch in den Räumen der Bürgerschule zu St. Stephan (Teil des heutigen Churhauses, Stephansplatz 3) unter.

Bürgerschule
Die Universität kam im 14. Jahrhundert provisorisch in den Räumen der Bürgerschule zu St. Stephan (Teil des heutigen Churhauses, Stephansplatz 3) unter. An die erste Universität in Wien erinnert aber aus baulicher Sicht nichts mehr. Der heutige Bau des Churhauses stammt aus den Jahren 1738 bis 1740.


© Stefan Seelig

 

Für die Zeit ab 1399 sind Fakultätsakten erhalten, die unter anderem belegen, dass die Wiener Medizinische Fakultät bei Streitigkeiten zwischen Badern, Hebammen und regionalen Grundherren als Schlichtungsstelle angerufen wurde. Und der damalige Dekan der Medizinischen Fakultät, Johannes Silber, vermerkte, dass ab sofort alle abgehaltenen Prüfungen sowie Vorkommnisse an der Universität in ein Buch eingetragen werden müssen: die „Acta Facultatis Medicae“.

Bürgerschule
Fakultätsakten ab 1399 belegen, dass die Wiener Medizinische Fakultät bei Streitigkeiten zwischen Badern, Hebammen und regionalen Grundherren als Schlichtungsstelle angerufen wurde.


© Stefan Seelig

 

Auch wenn die Gründung in das Jahr 1365 fällt, kann von einer wissenschaftlich-medizinischen Lehre in Wien erst 30 Jahre später gesprochen werden, etwa zu dem Zeitpunkt, als Galeazzo di Santa Sofia nach Wien berufen wurde. Er studierte an der 1222 gegründeten Universität in Padua, die als das führende Zentrum der Medizin in Europa galt.

Galeazzo schrieb zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen. Die „Simplicia“, eine Arbeit über Arzneimittel, erlangte große Bedeutung an der Hochschule. Weiters schrieb er Theorien über die Ursachen der Pest, an der er übrigens 1427 verstarb. Er war es, der erstmals auf die Einschleppungsgefahr durch den Handel hingewiesen hatte. Damit stellte er sich gegen die damals vorherrschende Meinung, wonach die Pest an Ort und Stelle „durch verderbte Luft“ entstehen würde.

Galeazzo wurde zum Dekan der Wiener Medizinischen Fakultät ernannt. Eine seine Neuerungen war die Einführung der Anatomie als Lehrgegenstand. 1404 hielt er die erste Anatomievorlesung. Möglicherweise unter seiner Leitung wurde im selben Jahr, am 12. Februar, die erste Leichensektion im deutschsprachigen Raum zur anatomischen Demonstration durchgeführt. Diese Obduktion war auch gleichzeitig die erste nördlich der Alpen. Seziert wurde im „Hospital Wiennensi“, wahrscheinlich im Heiligengeistspital (die Apotheke „Zum Heiligen Geist“ in der Operngasse 16 trägt noch den Namen des heute nicht mehr existierenden Spitals), oder möglicherweise auch im Bibliotheksraum des Fakultätshauses in der Weihburggasse, dem heutigen Sitz der Ärztekammer für Wien auf Nummer 10-12.

Anatomie Holzschnitt
Für die Zeit zwischen 1404 und 1498 sind in Wien lediglich 14 Sektionen dokumentiert. 1455 forderten die Studenten, „es möge jedes Jahr eine Leiche, abwechselnd eine männliche und eine weibliche, zergliedert werden“.

© AnonymousUnknown author, Jacobus Berengarius Anatomia carpi Titelholzschnitt 1535 (Isny), als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

 

In Wien wurden nur sehr wenige Sektionen vorgenommen. Dies hatte mehrere Gründe: Seziert wurden nur Leichname von zum Tode verurteilten Menschen, die von der Fakultät angekauft werden mussten. Die Delinquenten wurden von der Fakultät abgekauft. Die Fakultät musste den Henker und dessen Gehilfen sowie auch Messe- und Begräbniskosten übernehmen. Mitfinanziert wurden die Obduktionen von Studenten und anderen Zuschauern.

Für die Zeit zwischen 1404 und 1498 sind in Wien lediglich 14 Sektionen dokumentiert. 1455 forderten die Studenten, „es möge jedes Jahr eine Leiche, abwechselnd eine männliche und eine weibliche, zergliedert werden“. Viele akademisch ausgebildete Buchärzte in Wien übten also ihren Beruf aus, ohne jemals die inneren Organe eines Menschen gesehen zu haben.

Nicht immer lief bei den Sektionen alles glatt, und es konnte auch passieren, noch lebend auf dem Seziertisch zu landen. Passiert ist dies zum Beispiel 1492 einem gewissen Konrad Praitenauer. Als man begann, die angebliche Leiche zu öffnen, bemerkte man noch schwache Lebenszeichen an ihm. Man ließ ihn zur Ader, worauf Schaum aus seinem Mund hervortrat. Der bei der Sektion anwesende Arzt meinte, das sei ein sicheres Zeichen des Todes, aber zur Vorsicht bemühte man sich dennoch weiter um den „Toten“ und konnte ihn schließlich wieder „erwecken“. Auf Fakultätskosten wurde er sogar gesund gepflegt – er stand ja im Eigentum der Fakultät, die ihn vom Henker gekauft hatte. Praitenauer waren dann noch einige, hoffentlich glückliche, Jahre in seiner Heimatgemeinde Alt-Ötting beschieden, eher er, dann allerdings mit Erfolg, ein zweites Mal aufgrund von wiederholten Diebstahls gehenkt wurde.

An die erste Universität in Wien erinnert aus baulicher Sicht nichts mehr. Der heutige Bau des Churhauses stammt aus den Jahren 1738 bis 1740.

 

 

Hans-Peter Petutschnig ist seit vielen Jahren für die Pressearbeit und den Verlag der Wiener Ärztekammer verantwortlich. Er ist zudem stellvertretender Kammeramtsdirektor der Ärztekammer für Wien und organisiert zahlreiche kulturelle Veranstaltungen für Ärztinnen und Ärzte. Zusammen mit der staatlich geprüften Wiener Fremdenführerin sowie Kunst- und Kulturvermittlerin Bibiane Krapfenbauer-Horsky hat er das Buch „Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien – Medizinische Spaziergänge durch die Stadt“ verfasst.

WEITERLESEN:
Zur „Erhaltung der Menschheit“
Das sündige Wien
Kolomani: Ein heiliger Vermittler
Der Sitz der Ärztekammer
Paracelsus in Wien
Altes Universitätsviertel
Die Wiener Poliklinik
Der Zahnwehhergott
Vom Bader zum Arzt
Die 14 Notheiligen
Auf den Spuren der alten Heilkunst in Wien
Hans-Peter Petutschnig
Hans-Peter Petutschnig, seit vielen Jahren für die Pressearbeit und den Verlag der Wiener Ärztekammer verantwortlich, begibt sich nun regelmäßig bei medinlive auf eine Zeitreise zu den Spuren der alten Wiener Medizin.
Stefan Seelig
Auch wenn die Gründung der Universität in das Jahr 1365 fällt, kann von einer wissenschaftlich-medizinischen Lehre in Wien erst 30 Jahre später gesprochen werden, etwa zu dem Zeitpunkt, als Galeazzo di Santa Sofia nach Wien berufen wurde. Er studierte an der 1222 gegründeten Universität in Padua, die als das führende Zentrum der Medizin in Europa galt.