medinlive: Für wen sind Balintgruppen grundsätzlich geeignet und welchen Anspruch haben sie?
Hans-Peter Edlhaimb: Balintgruppen heute werden zuallererst für Ärztinnen und Ärzte angeboten, sind jedoch weitgehend für alle Berufsgruppen geeignet, die mit Menschen arbeiten, sei es im Gesundheits-, Sozial- oder Erziehungsbereich.
medinlive: Wenn Sie erklären müssten, was Balintgruppen sind, Kolleginnen und Kollegen sowie Laien, was wäre Ihre Antwort?
Edlhaimb: Balintgruppen dienen der Qualitätssicherung in der Behandlung von Menschen und im Umgang mit Menschen. In den genannten Fachbereichen werden Balintgruppen eben für all jene Berufsbereiche angeboten, die durch die Beziehung zwischen professionell Geschulten und zu beratenden, zu fördernden oder zu betreuenden Menschen getragen werden. Um die geforderten beruflichen Aufgaben zu meistern, kann unter professioneller Anleitung die Balint-Gruppenarbeit auf der zwischenmenschlichen Ebene unterstützend und hilfreich sein.
Im medizinischen Bereich ist die klassische Balintgruppe als Arbeitsgruppe von circa acht bis zwölf Ärztinnen und Ärzten organisiert. Unter der Führung eines klinisch erfahrenen, von der ÖBG (Österreichischen Balintgesellschaft) anerkannten Balint-Gruppenleiters trifft sich die Gruppe regelmäßig, um sich über Problemsituationen aus der ärztlichen Praxis auszutauschen. Von großer Bedeutung ist wohl die Vereinbarung des verschwiegenen, geschützten Rahmens, keine personenbezogenen Informationen öffentlich weiterzugeben. Nur unter diesem besonderen Schutz ist es möglich, eigene schwierige, emotional belastende Beteiligungen der behandelnden Ärztinnenund Ärzte zur Sprache zu bringen und gemeinsam zu reflektieren. Ziel ist eine gut wirksame Arzt-Patienten-Beziehung, die nachweislich für eine bessere Behandlungsqualität und eine höhere Zufriedenheit bei Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten sorgt.
Die sechs Funktionen einer Balintgruppe:
Lehrfunktion
Ärztinnen und Ärzte erlernen neben einer Krankheitsdiagnostik eine patientenorientierte Medizin, eine Beziehungsdiagnostik und Beziehungstherapie. Das Training in Bezug auf die patientenzentrierte Kommunikation und Gesprächsführung steht im Vordergrund. Die Balintgruppe spiegelt als sozialer Resonanzkörper die unbewussten Ängste, Leidenschaften und Konflikte der Patientinnen und Patienten wider. Die Teilnehmenden werden befähigt, hinter der Erkrankung liegende, drängende psychosoziale Klagen zu übersetzen und empathisch zu beantworten.
Berufsgruppen aus dem Gesundheits-, Sozial- oder Erziehungsbereich wird ein klientenzentrierter und selbstreflexiver Ansatz ihrer Tätigkeit vermittelt. In der psychosozialen oder psychotherapeutischen Weiterbildung erlernen die Teilnehmenden die Perspektive des Betrachters zu wechseln, die eigene affektive Resonanz zu beachten und für diagnostische und therapeutische Aufgaben einzusetzen, sich reflexiv zu verhalten, Nähe zuzulassen, Kontaktgrenzen zu erkennen, zu respektieren und zu ziehen.
Supervision
Balintgruppen vermitteln ein Fremd- und Selbstwahrnehmungstraining und eine selbstkritische Reflexion der eigenen beruflichen Tätigkeit. Die Spiegelung in der Gruppe verdeutlicht nicht nur bewusstes, sondern auch unbewusstes Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen der Arzt-Patienten-Beziehung oder Berater-Klienten-Beziehung. Die in den ÖÄK-Psy-Diplom Weiterbildungen für Psychosoziale, Psychosomatische und Psychotherapeutische Medizin erlernten kommunikativen Fertigkeiten und Fertigkeiten in Theorie und Praxis werden thematisiert.
Selbsterfahrung
Durch einen ungestörten Situationsbericht können sich die Teilnehmenden in geschützter Atmosphäre selbst in Beziehung zu ihren Patientinnen und Patienten oder Klienten setzen und erleben, die eigenen Stärken und Schwächen reflektieren, bekannte Beziehungserfahrungen und sogenannte „blinde Flecken“ selbstreflexiv erkennen. Supervision und Selbsterfahrung sind wichtige Säulen einer effizienten Burnout-Prophylaxe der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte.
Forschung:
Balint-Gruppenarbeit basiert auf dem Postulat der wechselseitigen, mutualen Psychoanalyse Sándor Ferenczis im Sinne von Verändern durch Verstehen. Insofern ist jeder Prozess der Klärung und Aufdeckung unbewussten Beziehungsgeschehens in der beruflichen Kommunikation auch als Forschungsprozess zu sehen. Wie die ursprünglich von Bálint gegründeten Gruppen, können Balintgruppen auch primär Forschungsfunktion zur Analyse unbewusster zwischenmenschlicher Prozesse in bestimmten Berufsfeldern haben. Strategien zu einer persönlichen Sensibilisierung und Selbstsorge werden in Bálints training cum research-Gruppen geübt.
Identitätsstiftung:
Die professionelle Reflexion der eigenen Arbeit und des Umganges mit Patientinnen und Patienten sowie die Reflexion schwieriger Situationen in der Arzt-Patienten-Beziehung fördern die Identitätsstiftung für Ärztinnen und Ärzten in Ausbildung und in selbständiger Berufsausübung.
Gleichermaßen wird durch die professionelle Reflexion dieser Ebenen das eigene Rollen- und Funktionsverständnis von Experten im Gesundheits-, Sozial- oder Erziehungsbereich geklärt.
Burnout-Prophylaxe
In einem geschützten Rahmen Behandlungs- wie auch Arbeitssituationen mit verstörender, affektiver Betroffenheit anzusprechen, kann zu psycho-physischer, leiblicher Entspannung beitragen. Der entlastende Effekt eines Sharing mit Kolleginnen und Kollegen wird erfahren.
medinlive: Wie sieht eine Sitzung einer Balintgruppe aus, was kann man sich darunter vorstellen?
Edlhaimb: Das Treffen einer berufsbegleitenden Balintgruppe ist für die Teilnehmenden idealerweise in einem monatlichen Abstand für die Dauer von zwei bis drei Stunden organisiert. Geführt von einem erfahrenen Balint-Gruppenleiter, folgt die Balintgruppe einem halbstrukturierten Ablauf. Zuerst gibt es die Begrüßung ein „Warming up“ mit Mitgebrachtem und Befindlichkeiten. Weiter geht es mit Fallsuche und Themenfindung der Gruppe. Der Referierende berichtet ungestört, ohne Unterbrechung oder Zwischenfragen, über eine Arzt-Patienten-Begegnung oder Problemsituation, die Unbehagen und offene Fragen hinterlassen hat. Es gibt klärende Fragen, aber keine Lösungsansätze der Gruppenmitglieder.
Die kreative freie Assoziations- und Intuitionsphase der Gruppenmitglieder:
- Der Referierende rückt aus dem Sesselkreis, schweigt und wird nicht angesprochen. Hypothesen zu Diagnostik oder Lösungsvorschläge sind von den Gruppenmitgliedern nicht anzusprechen. Gefragt ist das eigenleibliche Empfinden, die eigene emotionale Betroffenheit, wie beispielsweise: „Wie ginge es mir selbst in der Rolle der Patientin, des Arztes?“ Die Gruppenmitglieder assoziieren frei, im Fokus steht die erlebte Beziehung. Rollenspiel oder Aufstellung der referierten Szene kann eingesetzt werden
- Der Referierende wird zu einem Feedback und möglichen Reflexionen zurück in die Gruppe gebeten
- Zeit für Resümee und neue Perspektiven
Historischer Hintergrund/Ursprung
Die im Jahre 1924 in Budapest fortgesetzte psychoanalytische Ausbildung bei Sándor Ferenczi beeinflusst Michael Bálints Denken und Wirken auf seinem Lebensweg nachhaltig. Seit 1926 als Lehranalytiker am Psychoanalytischen Institut in Budapest, publiziert Bálint drei Jahre später eine Arbeit über Psychoanalyse und klinische Medizin. Bálint kann als Pionier der psychosomatischen Medizin gesehen werden. 1935 folgt er Ferenczi als Direktor an eben diesem Institut nach.
1947 nimmt Bálint seine Forschungsarbeit mit seiner zweiten Frau Enid Bálint an der Londoner Tavistock Clinic am Family Discussion Bureau auf. Enid Bálint begleitet im Tavistock Institute of Human Relations eine nichtärztliche Gruppe von Sozialarbeitern und Psychologen. In den 1950er Jahren entwickelt Michael Bálint in Großbritannien eine „Bálint-Gruppe“, eine Reflexions-Gruppe für Ärztinnen für Ärzte, welche in Form einer Supervision die Beziehung der Ärztinnen und Ärzte zu ihren Patientinnen psychoanalytisch thematisiert.
Bálint vertritt eine patientenzentrierte, ganzheitliche, bio-psycho-soziale Sichtweise in der Medizin. In der Balintgruppe wird die Analyse der Arzt-Patienten-Beziehung und deren Bedeutung für den Heilungsprozess in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Bálint benennt diese Gruppen auch als „training-cum-research-seminars". Die weltweite Verbreitung der Bálintgruppen heute spricht für deren hohe Wirksamkeit in der Qualitätssicherung ärztlichen Handelns.
medinlive: Der Balint‘sche Grundgedanke ist ja, dass „das am allerhäufigsten verwendete Heilmittel der Arzt selber sei“. Wie wirkt sich diese Haltung in Bezug auf die Arzt-Patienten-Kommunikation aus? Welches Werkzeug gibt man damit Ärztinnen und Ärzten an die Hand?
Edlhaimb: Als Schüler und Lehranalysand des ungarischen Neurologen und Psychoanalytikers Sándor Ferenczi wird Michael Bálint mit dem Denken seines Lehrers „Ohne Sympathie keine Heilung“ vertraut. Die Idee, die therapeutische Beziehung entscheide den Therapieerfolg, vertieft Bálint weiter zu einer „Pharmakologie der Droge Arzt“: Bálint vergleicht den Einfluss der Person der Ärztin und des Arztes auf den Patienten mit dem Einfluss eines Arzneimittels, einschließlich unerwünschter Nebenwirkungen im Sinne der negativen Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis; ebenso der Bereitschaft der Patientin und der Patientin zu Vertrauen und Mitarbeit im Sinne einer Compliance und der Erfolgsaussichten der Behandlung.
Studien belegen 80 Prozent der am häufigsten genannten Defizite im Bereich der Kommunikation und der menschlichen Beziehung im Gesundheitsbereich. Nur 20 Prozent der Patientenklagen weisen einen medizinischen Kunstfehler aus. Ärztinnen und Ärzte erhalten in den ÖÄK-Psy-Diplomen für Psychosoziale Medizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapeutische Medizin ein umfangreiches Kommunikationstraining und eine Schulung in professioneller Beziehungsgestaltung. Diese Skills werden ebenso in Balintgruppen gepflegt und supervidiert.
medinlive: Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen mit der Balint-Gruppenarbeit? Wie sind Sie zu dieser Thematik bekommen?
Edlhaimb: Als ich 1979 vom stationären Bereich der Turnusausbildung in den niedergelassenen Bereich der eigenen Praxis wechselte, erlebte ich sehr bald die belastende Einsamkeit in der Ordination. Es gab in der freien Praxis keine Kollegen, keine fachliche und menschliche Unterstützung in schwierigen Behandlungssituationen mehr. Folglich etablierte ich im Bezirk Baden bei Wien 1980 gemeinsam mit einigen Kolleginnen der Allgemeinmedizin und anderer medizinischer Sonderfächer unter der Führung eines erfahrenen Gruppendynamikers die erste dort wirkende Balintgruppe.
Diese bestand über 20 Jahre, und ich konnte am eigenen Leib die entlastende Wirkung dieser kollegialen Zusammenarbeit erleben. 1989 wurden die ÖÄK-Psy-Diplome für Psychosoziale Medizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapeutische Medizin von Wolfgang Wesiack entwickelt und deren Curricula in der Österreichischen Ärztezeitung publiziert. Balint-Gruppenarbeit war damals schon ein integrierender Bestandteil der Curricula dieser Weiterbildung. Von 1991 bis 2003 war ich Mitglied in der Österreichischen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin (ÖGPM) der ÖÄK. In der ÖGPM wurde die Weiterbildung in Psychosozialer, Psychosomatischer und Psychotherapeutischer Medizin bis zum Jahr 1994 nach Inhalt und Umfang der laut österreichischem Psychotherapiegesetz im Jahr 1991 vorgegebenen Ausbildung in Psychotherapie angeglichen und die Balint-Gruppenarbeit auf 200 Lehreinheiten erweitert.
Die Gründung der Österreichischen Balintgesellschaft wurde durch den Kollegen Wilfried Leeb und meine Person im Jahr 2003 veranlasst.
medinlive: Was ist zum Beispiel eine der interessantesten Fallvignetten gewesen?
Edlhaimb: Ein erfahrener Allgemeinmediziner aus dem ländlichen Raum berichtete von einer komplexen Situation, welche ihn noch Tage nach dem Geschehnis beschäftigt: Ein circa 45-jähriger Bauer ruft eines Morgens an, seine Frau, mit der Diagnose Typ 1 Diabetikerin und Alkoholikerin, sei wieder einmal nicht erweckbar, hätte einen Blutzucker von nur 37mg% und er benötige eine telefonische Freigabe bei der nahe gelegenen Apotheke für die entsprechende Medikation, welche er, wie schon des Öfteren, selbst verabreichen würde. Auch wenn es eine schon bekannte Situation sei, stutzt der Allgemeinmediziner und er will eine Visite bei dem zwölf Kilometer entfernten Anwesen machen, was der Ehemann der Patientin ablehnt. Dennoch fährt der Arzt zu der Frau, welche er in einem lebensbedrohlichen Zustand vorfindet und nach der Notfallversorgung ins nächste Krankenhaus einliefern lässt, wo sie mit den Zeichen eines cerebralen Prozesses auf der Intensivstation aufgenommen wird. Sie überlebt, jedoch bleibt eine cerebrale Schädigung mit Wortfindungsstörungen und diskreten Halbseitzeichen.
Für den Arzt bleibt ein äußerst unangenehmes Gefühl der Betroffenheit und Unklarheit über die erlebte Situation, welche ihn immer wieder gedanklich und emotional beschäftigt. Bei der freien Assoziation in der Balint-Gruppenarbeit macht sich alsbald im Sinne eines Resonanzgeschehens eine ähnlich unruhige und unerklärbare Atmosphäre breit. Die Teilnehmenden versuchen, sich in die Rolle der Patientin, dann in die des Bauern und dann in die des ärztlichen Kollegen einzufühlen und berichten über ihre eigenen leiblichen Empfindungen, Emotionen und Gedanken, ohne nach diagnostischen oder therapeutischen Lösungen zu suchen. Etwas Unheimliches, Verborgenes mutet die Gruppenmitglieder an, ob die Patientin bewusste oder unbewusste suizidale Impulse gehabt hätte, zumal Spannungen in der Großfamilie und wirtschaftliche Probleme genannt waren. Die Frage taucht auf, ob der Bauer bewusst oder unbewusst den Tod seiner Frau als mögliche Lösung der Konflikte in Kauf genommen hätte.
Erleichtert wäre der Kollege erst dann gewesen, als nach einigen Wochen Rehabilitation die Frau in der Praxis erschien, und, wohl mit einer geringen Restparese, das Leben wieder positiv erleben konnte.
Die Phantasien der anwesenden Kolleginnen und Kollegen in der Balintgruppe erhellten sein Unbehagen. Das empathische Mitschwingen der Gruppe, das Problem mit verständnisvollen Kolleginnen und Kollegen geteilt haben zu können, gibt dem Arzt Entlastung. Das vermittelte Verständnis gibt die erhoffte Sicherheit, in unklaren Situationen der eigenen Intuition zu folgen.
Österreichische Balintgesellschaft (ÖBG)
Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Salzburg vom 25. März 2003 wird die Österreichische Balintgesellschaft (ÖBG) mit den gültigen Satzungen in das Vereinsregister eingetragen. Die Gründungsversammlung findet am 21. Juni 2003 statt.
2005 überträgt die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK) offiziell den Auftrag zur Balint-Gruppenleiter-Ausbildung und in Folge sämtliche Agenden der Verwaltung und Listenführung an die ÖBG. Die bis dahin beauftragte Österreichische Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin (ÖGPM) war 2003 aufgelöst worden.
Die ÖBG ist DFP-akkreditierter Veranstalter und bietet eigenständige Fortbildungsangebote.
Balint-Gruppenarbeit ist Bestandteil
- der Ausbildung zum Facharzt/zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin,
- der Weiterbildung im Rahmen der ÖÄK-Spezialdiplome Psychosoziale Medizin (Psy1), Psychosomatische Medizin (Psy2) und Psychotherapeutische Medizin (Psy3),
- der Psychosomatischen Grundversorgung in der ärztlichen Basisausbildung (Ärzteausbildungsordnung, 2015)
- der Spezialisierung in fachspezifischer Psychosomatischer Medizin (Ärzteausbildungsordnung, 2017)
Weitere Informationen unter:
www.balintgesellschaft.at