In ihrer Laudatio verwies Helga Nowotny, Vorsitzende des ERA Council Forum Austria und Mitglied des österreichischen Rates für Forschung und Technologieentwicklung, auf die Bedeutung der Komplexitätsforschung:
„Komplexitätsforschung ist ein Zukunftsfeld, weil uns zunehmend bewusst wird, wie sehr wir selbst Teil von komplexen Systemen in einer komplexen Welt sind.“
Die Arbeit mit einer großen Datenmenge, die freilich aus der Vergangenheit stammt, ermögliche zu erfassen, was noch im Werden ist und somit in der Zukunft liegt: „Ein komplexes System besteht aus Netzwerken, deren dynamisches Verhalten sich ständig verändert. Netzwerke lassen sich modellieren. Sie reagieren auf Stress, zeigen Robustheit oder kollabieren.“ Um ein System auch nur ansatzweise zu verstehen, müsse man wissen, wie dessen Bausteine miteinander in Beziehung stehen und sich ständig dynamisch verändern. In diesem Sinne seien Peter Klimek und Stefan Thurner „die wissenschaftlichen Proponenten der Erforschung emergenter Netzwerke in komplexen Systemen“, so Nowotny.
Elimination als Pandemie-Option
Ehrenringträger Peter Klimek stellte seinen Vortrag unter das Motto „Die sich selbst erfüllende Pandemie“ und verwies auf die immer noch vorhandene Impfskepsis und Resistenz und die diversen Exitstrategien: „Diese Abwärtsspirale haben wir uns selbst konstruiert. Sie war keine epidemiologische Notwendigkeit.“ Er spielt damit auf die Lockdowns und Öffnungen, welche die Menschen verunsicherten, an.
„Wie wäre die Pandemie wohl verlaufen, hätten wir auch in Europa eine Eliminierung des ursprünglichen Virus von Anfang an für möglich gehalten und dies international koordiniert angestrebt? Stattdessen haben wir eine Wirklichkeit nicht nur für uns selbst konstruiert, sondern auch für alle anderen Länder. Vor allem Australien und Neuseeland stehen vor den Trümmern ihrer erfolgreichen Eliminierungsstrategien: Die Delta-Variante ist anscheinend so ansteckend, dass Lockdowns bei geringer Impfquote zur Kontrolle der Virusausbreitung nicht mehr reichen – oder hält sich dort mittlerweile auch niemand mehr an die Maßnahmen?“
Klimek zeigt aber Zuversicht: „Die gute Nachricht ist, und damit komme ich zurück zu Paul Watzlawick: Solche Kreisläufe können durchbrochen werden. Hier ein paar neue Self-Fulfilling-Prophecies:
Eindämmungsmaßnahmen wirken. Elimination kann sehr wohl eine Pandemie-Option sein. Und wir schaffen Digitalisierung! Wenn wir daran glauben, wird es viel einfacher werden, eine nächste Pandemie zu bewältigen.“
Warnung vor Polarisierungen
Der zweite Ehrenringträger Stefan Thurner, Begründer des Vienna Complexity Hub, überleitete seine Dankesrede mit der Paraphrase zu Watzlawick: „Man kann auch nicht kommunizieren“ warnte er für Polarisierungen: „Polarisierung bedeutet, dass sich zwei oder mehr Lager bilden, die sich zunehmend voneinander abgrenzen; Fragmentierung heißt, dass sich Tausende Gruppen bilden, deren Mitglieder untereinander kooperieren, ‚die anderen‘ jenseits der eigenen Bubble aber nicht schätzen oder verstehen (wollen).“ In einer Parallelgesellschaft fühlten sich Zehntausende, manchmal Hunderttausende Menschen „der Gesellschaft“ nicht mehr zugehörig und starteten allmählich, staatsähnliche Strukturen innerhalb des Staates aufzubauen, wie es etwa bei arabischen Clans in Berlin, Bremen oder Stockholm derzeit bereits zu beobachten sei.
Allen diesen Tendenzen sei gemeinsam, dass aufgrund der Lagerbildung die Kommunikation auf gesellschaftlicher Ebene nicht mehr funktionierte. Das aber gefährde die Kompromissfindungsfähigkeit, und damit die Demokratie: „Wir konnten zeigen, dass, je leichter Kommunikationspartner gewechselt werden können, die Gesellschaft umso mehr Gefahr läuft, in Filterblasen zu fragmentieren. Es gibt sogar einen Schwellwert, ab dem die Gesellschaft schlagartig fragmentieren muss. Es existiert ein Tipping Point für den Kollaps der Zivilgesellschaft. Wir können also einen direkten Zusammenhang zwischen der Veränderung der Kommunikationsmittel und der Bildung von Filterblasen durch das Verschwinden von Kommunikationsbrücken in der Gesellschaft herstellen.“
Petutschnig verwies anlässlich der Ring-Überreichung nochmals auf das Ziel und die Grundidee des Ehrenrings: „Wir wollen den interdisziplinären Dialog der Wissenschaft fördern und aufzeigen, dass Medizin den Dialog mit den Geistes- und Sozialwissenschaften, aber auch mit der Physik notwendig hat. Die beiden Preisträger beweisen das gerade in ihrer vorbildhaften Arbeit während der Pandemie.“
Einer der bedeutendsten Wissenschaftsawards
Der Paul Watzlawick Ehrenring zählt zu den bedeutendsten Wissenschaftsawards im deutschsprachigen Raum. Die bisherigen Ringträger sind: Robert Pfaller, Ulrike Guérot, Hartmut Rosa, Franz Schuh, Konrad Paul Liessmann, Ruth Klüger (†), Walter Thirring (†), Friedrich Achleitner (†), Rüdiger Safranski, Aleida Assmann und Peter L. Berger (†). Für sein Lebenswerk wurde dieses Jahr zudem der Wiener Philosoph Rudolf Burger mit dem Watzlawick Ehrenpreis ausgezeichnet, wie einige Jahre davor schon die ungarische Philosophin Ágnes Heller (†).