Massenvergiftungen, ungewollte Überdosierungen, Tote bei Drogenpartys. Die seit Jahren in den USA wütende Opioid-Krise lässt das Land kaum aufatmen. Das Beruhigungsmittel Xylazin bringt nun eine neue Eskalationsstufe. Dessen Entzug sei schmerzhaft, auch gebe es keine bekannten Gegenmittel. Die US-Regierung ist alarmiert. Was Ärzt:innen über das Mittel wissen sollten.
Claudia Tschabuschnig
Während das synthetische Opioid Fentanyl lange Zeit als Zenit der Drogenkrise gesehen wurde, kommt mit Xylazin, auch „Tranq“ oder „Tranq Dope“ genannt, ein neuer Akteur ins Spiel. Die Droge führt zu einer Verlangsamung der Atmung und des Herzschlags, manchmal bis auf ein tödliches Niveau, und kann Hautabszesse und Geschwüre hervorrufen. Warum die Substanz auch „Zombie-Droge“ genannt wird, zeigt sich bei der Überdosis mit Fetanyl: Mediziner:innen berichten von nekrotischen Wunden, die Amputationen notwendig machen und Infektionen, die bis auf die Knochen reichen.
„Es ist schwer vorstellbar, dass irgendetwas die Opioidkrise noch schlimmer machen könnte, aber Xylazin verschlimmert sie tatsächlich, sowohl die erhöhte Sterblichkeit als auch durch die Abhängigkeit von Xylazin und Opioiden“, sagt Andrew Kolodny, US-Experte für Opioidpolitik und Suchtmedizin zu US-Medien.
Rausch verlängern
Obwohl Xylazin, ein Alpha-2-Agonist, häufig in Verbindung mit Opioiden verwendet wird, ist die Substanz kein Opioid. Dem Opioid Fentanyl zugesetzt, verstärkt das Mittel die Wirkung und verlängert den Rausch. Generell ist Fentanyl ein hochwirksames synthetisches Opioid, das 50- bis 100-mal stärker ist als Morphin und schon in geringen Mengen zu Atemdepression und Tod führen kann. Menschen, die etwa an einer Fentanyl-Sucht leiden, die Substanz also häufig benötigen, vielleicht aber nicht genügend Geld für das illegale Opioid haben, könnten die Nachfrage an Xylazin am Markt steigern.
Dabei war Xylazin nie für die Verwendung beim Menschen vorgesehen. Zwar wurde es in den 1960er Jahren als potenzielles Medikament gegen Bluthochdruck beim Menschen untersucht, „aber wegen der starken Sedierung des zentralen Nervensystems wurde es für die Verwendung beim Menschen als ungeeignet erachtet“, erklärt Kelly Ramsey, Leiterin des medizinischen Dienstes in New York. 1971 wurde es als Beruhigungsmittel in der Veterinärmedizin zugelassen. Dort wird es in der Regel bei Pferden als Anästhetikum und Beruhigungsmittel bei operativen Eingriffen verwendet.
Das macht Xylazin zu einem Arzneimittel, das aus der Tiermedizin abgezweigt werden kann. Und der Mischkonsum steigt. Mittlerweile hat sich FAXX (Bezeichnung der Behörden für fentanylverfälschtes oder -assoziiertes Xylazin) inzwischen im gesamten Nordosten der USA ausgebreitet und hält auch in anderen Städten Einzug. Laut dem US-Drogenbeauftragten Rahul Gupta wurde es in fast allen 50 Bundesstaaten registriert. Philadelphia gilt als Epizentrum der Xylazin-Krise.
Starke Sedierung
Eines der Probleme mit Xylazin ist, dass es zu einer starken Sedierung führt, die den Konsumenten für eine lange Zeit außer Gefecht setzt, so Mediziner:innen. Die stundenlange Ohnmacht macht vulnerabel für Raub und Überfälle, kann aber auch zu anderen Erkrankungen wie tiefen Venenthrombosen oder dem Kompartmentsyndrom führen. Auch gibt es bisher keine bekannten Gegenmittel.
Selbst Naloxon (Narcan), das Rettungsmittel bei einer Opioid-Überdosis dürfte bei einer Überdosierung mit Fentanyl und Xylazin im Körper weniger wirksam sein. Betroffene wachen nach der Einnahme von Naloxon nicht sofort wieder auf, da es die Wirkung von Xylazin nicht in der gleichen Weise aufhebt wie die von Opioiden, berichten US-Mediziner:innen. „Xylazin lässt sich nicht mit Narcan rückgängig machen“, sagt Joseph D'Orazio, ein Arzt des Temple University Hospital in Philadelphia. „Es kommt zu einer Überdosis mehrerer Substanzen“, fügt er hinzu.
Atemwegsmanöver nötig
„Xylazin verursacht eine Depression des mentalen Status, was zu einer abgestumpften Reaktion auf die Hypoxie führen kann, die mit einer Überdosis einhergeht“, so D'Orazio. „Es ist in etwa so, wie bei einer Benzodiazepin-Überdosis. Für Umstehende, die Naloxon verabreichen, bedeutet das: Wenn die Atmung wiedereinsetzt, der Patient aber nicht wach ist, sollte er in die stabile Seitenlage gebracht werden.“
Bei solchen Patient:innen gehe es darum, einige Atemwegsmanöver durchzuführen, etwa indem sie den Kopf in einem Winkel von 30 Grad zum Bett legen, die Atemwege offen halten und den Sauerstoffgehalt mit einem Pulsoximeter überwachen. „Nur in seltenen Fällen ist eine Intubation und Beatmung erforderlich“, erklärt D'Orazio.
Schwieriger Entzug
Auch der Entzug von dem Drogenmix sei beschwerlich. Der Xylazin-Entzug ist „in erster Linie mit Ängsten verbunden. Die Betroffenen sind sehr unruhig und fühlen sich dysphorisch, es ist schwer sie zu behandeln“, sagt D'Orazio. Noch gebe es keine optimale Behandlungsstrategie für den Xylazin-Entzug. D'Orazio empfiehlt den Einsatz von Benzodiazepinen zur Entgiftung.
Eine andere Gefahr von Xylazin ist aus der Tiermedizin bekannt, nämlich die Anämie. Wenn Menschen mit Xylazin verunreinigtes Heroin injizieren kann dies US-Mediziner:innen zufolge zu einer fast tödlichen Form von Eisenmangel im Blut führen.
Viele Fragen offen
Vieles ist noch unklar, was Xylazin betrifft. Einschätzungen beruhen vorwiegend auf Erfahrungen von Mediziner:innen. Bisher liegen nur Studien an Tieren vor. Dort finden sich Berichte darüber, dass die wiederholte Anwendung des Mittels zu Läsionen führt, wodurch es die Empfehlung gibt, Xylazin nicht langfristig einzusetzen.
Gerade die Wunden sind es, die Mediziner:innen am meisten beschäftigen. Sie sollen tiefer, schwerer und schwer behandelbarer sein als alles, was US-Mediziner:innen bisher im Zusammenhang mit injiziererten Drogen beobachtet haben. „Menschen, die Xylazin-haltige Drogen injizieren, können schwere Wunden an der Haut und Stellen mit toter sowie verfaulter Haut entwickeln, die sich sehr einfach entzünden und unbehandelt zu Amputationen führen“, schreibt die amerikanische Drogenaufsichtsbehörde FDA hierzu.
Unklar ist wie die Wunden entstehen. Eine Theorie ist, dass die gefäßverengende Wirkung der Droge sie verursachen könnte. Auch gibt es Spekulationen, wonach das Mittel zytotoxisch sei. Auch die Angst vor einem nicht zu bewältigenden Entzug könnte zur Schwere der Wunden beitragen. Wegen des schweren Entzugs würden Betroffene dem Krankenhaus fernbleiben, was die Wunde verschlimmern könnte. In manchen US-Staaten wiederum gebe es kein großes Problem mit schweren Wunden, was mit der Aufnahme des Medikaments zusammenhängen könnte.
Wie weit der Xylazin-Konsum in den USA verbreitet ist, ist schwer zu sagen. Eine landesweite Erfassung der Substanz gibt es nicht. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Unklar ist auch die Zahl der Todesfälle, die durch dessen Überdosierung entstanden sind. Laut DAE-Bericht variieren die Testverfahren in der postmortalen Toxikologie sogar innerhalb der Bundesstaaten. Auch wurde Xylazin derzeit nicht in die nationalen Statistiken der CDC über tödliche Überdosierungen aufgenommen.
US-Behörden schlagen Alarm
„Eine neue Bedrohung für die Vereinigten Staaten“ nannte der US-Drogenbeauftragte vergangene Woche die Rolle von Xylazin in Kombination mit Fentanyl. Laut Medienberichten habe das Drogenbüro ein Budget von elf Millionen Dollar (10,04 Mio Euro) lukriert, um die Verbreitung der Droge zu stoppen. Insgesamt sollen nach Ankündigung von US-Präsident Joe Biden rund 46 Milliarden Dollar (41,98 Mio Euro) in die Bekämpfung der illegalen Drogenkrise fließen.
Xylazin wurde erstmals in den frühen 2000er Jahren registriert, so die Angaben der US-Regierung. Nach Angaben der Drogenvollzugsbehörde (DEA) stieg die Zahl der Xylazin-Fälle zwischen 2020 und 2021 im amerikanischen Süden um 193 Prozent, gefolgt vom Westen mit einem Anstieg von fast 112 Prozent. Nach Schätzungen der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde (CDC) starben in den zwölf Monaten bis zum 31. Oktober 2022 mehr als 107.000 Menschen an einer Überdosis. Vor 2020 hatte die Zahl der Todesfälle durch Überdosierung nie die 100.000 überschritten.
Erst letzten Monat haben die DEA-Behörden eine Warnung vor der „weit verbreiteten Gefahr“ von mit Xylazin vermischtem Fentanyl herausgegeben. Sie berichteten, dass im Jahr 2022 etwa 23 Prozent des Fentanylpulvers und sieben Prozent der von der DEA beschlagnahmten Fentanylpillen Xylazin enthielten.
Weitere Mittel erwartet
Mit der Erklärung des US-Drogenbüros erhofft sich die Regierung, Händler und Hersteller von illegalem Xylazin und illegalem Fentanyl abzuschrecken. Generell sieht der US-Drogenbeauftragte viele Veränderungen in der Drogenkrise: Die Verlagerung von überwiegend organischen Substanzen wie Heroin und Kokain zu überwiegend synthetischen Substanzen, aber auch die Art und Weise, wie Drogen gekauft und verkauft werden, nämlich vorwiegend digital. Einige Internetanbieter verkaufen die Pulverform des chemischen Stoffes. Für Drogenhersteller in den USA ist das Geschäft profitabel. Laut US-Drogenvollzugsbehörde ist ein Kilogramm Xylazin bereits für sechs bis 20 Dollar zu haben.
Die Drogenbehörde geht in Zukunft von weiteren zugefügten Mitteln in Fentanyl aus. Ein Bild, das US-Forscher bestätigen. Generell könne man Hunderte von Verbindungen synthetisieren und sie mischen, um zu sehen, was auf dem Markt am besten wirkt. Auf diese Art kämen immer neue Benzodiazepine, Stimulanzien und Cannabinoide auf den Drogenmarkt. Konsumenten hätten häufig keine Ahnung mehr, was sie konsumieren.
Für Menschen in Krisensituationen und deren Angehörige gibt es eine Reihe von Anlaufstellen:
Telefonische Hilfe im Krisenfall
● Telefonseelsorge 142, täglich, von 0 bis 24 Uhr.
● Kriseninterventionszentrum 01/406 95 95 (Montag bis Freitag, 10-17 Uhr);
auch persönliche und E-Mail-Beratung: www.kriseninterventionszentrum.at.
● Sozialpsychiatrischer Notdienst / PSD täglich, 0 bis 24 Uhr, Tel.: 01/31330
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