Mittels der Umfrage wollte die Ärztekammer erfahren, wie die Ärzteschaft den aktuellen Arbeitstag während der Pandemie erlebt, wie die Belastungen konkret die tägliche Arbeit beeinflussen und welche Lösungen in Zukunft die Arbeit erleichtern können.
Von der Ärztekammer beauftragt wurde die unabhängige Beratungsfirma Pitters Trendexpert. Insgesamt konnten 8.200 angestellte Kolleginnen und Kollegen in Wien telefonisch beziehungsweise elektronisch und anonym teilnehmen. Die Beteiligungsquote betrug 21,5 Prozent, das entspricht 1.765 Ärztinnen und Ärzten.
„Die Stichprobe ist repräsentativ und besitzt mit der aufgezeigten Rücklaufquote eine hohe Validität“, erklärt Harald Pitters, Geschäftsführer von Pitters Trendexpert, der auch betont: „Umfragen dieser Art, die eine Teilnahmequote von etwa 25 Prozent aufweisen, sind höchst aussagekräftig.“
Arbeitsalltag offenbart „katastrophale Zustände“
Im Rahmen des Arbeitsalltags wurde abgefragt, wie sich die Ärztinnen und Ärzte sowohl körperlich als auch psychisch fühlen. Die Ergebnisse sind dramatisch: Mehr als die Hälfte (53 Prozent) fühlen sich oft oder sehr oft emotional erschöpft, fast ident hoch (52 Prozent) ist die Zahl bei körperlicher Erschöpfung.
Mehr als ein Viertel (29 Prozent) fühlt sich oft oder sehr oft im Job alleingelassen, knapp ein Viertel (23 Prozent) fühlt sich geschwächt oder anfällig, selbst krank zu werden. Mehr als die Hälfte hat schon einmal daran gedacht, an einem Burnout zu leiden, 14 Prozent empfinden dies sogar als oft oder sehr oft.
„Bei 8.200 Ärztinnen und Ärzten sind das mehr als 1.000 Betroffene, die sich kurz vor einem Burnout sehen“, erklärt Gerald Gingold, Vizepräsident und Obmann der Kurie angestellte Ärzte der Ärztekammer für Wien. „Die Umfrage hat uns katastrophale Zustände offenbart, wir sind um die Gesundheit unserer Kolleginnen und Kollegen sehr besorgt.“ Es dürfe nicht sein, dass mehr als die Hälfte des Gesundheitspersonals sich sowohl körperlich als auch psychisch „am Ende“ sieht.
Mehr als die Hälfte (54 Prozent) hat auch zumindest einmal darüber nachgedacht, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, 31 Prozent haben eine solche bereits in Anspruch genommen. Gingold: „Fast ein Drittel unserer Spitalsärztinnen und -ärzte sehen also aufgrund der enormen Überbelastung die Notwendigkeit, selbst zum Arzt oder zur Ärztin zu gehen – das ist ein weiteres Warnsignal.“
Ebenso gefährdet sehen die Spitalsärztinnen und -ärzte ihre Kolleginnen und Kollegen in den anderen Gesundheitsberufen im Spital. 86 Prozent sind der Ansicht, dass die weiteren medizinischen Berufsgruppen ebenfalls emotional erschöpft sind, 83 Prozent attestieren diesen auch eine körperliche Überbelastung.
Kündigungswelle mit „verheerenden Folgen“
Die Konsequenzen dieses Arbeitsalltags und der prekären Arbeitsbedingungen sind für viele Befragten ebenfalls eindeutig: Mehr als die Hälfte (52 Prozent) haben schon über einen Jobwechsel beziehungsweise eine Kündigung kürzlich nachgedacht, knapp ein Fünftel der Befragten (18 beziehungsweise 15 Prozent) denken darüber oft oder sehr oft nach. Auch hier schlägt Gingold Alarm: „Mehr als 1.500 Ärztinnen und Ärzte denken allein in Wien darüber nach, aufgrund der derzeitigen Arbeitsüberlastungen das Handtuch zu werfen.“
Eine Kündigungswelle im Bereich der Spitalsärzteschaft aufgrund der enormen psychischen und körperlichen Überbelastungen wäre laut Gingold „verheerend“. „Ich fordere die Arbeitgeber auf, bereits jetzt zu beginnen, für Entlastungen zu sorgen“, so Gingold. Für ihn ist „noch nicht absehbar, wann die Pandemie endet“, und deswegen müsse man „bereits jetzt die seit Jahren bekannten Probleme an der Wurzel packen“, bevor sich die Situation noch weiter verschlimmere.
Umfrage zeigt „klare Problemstellen“ auf
In der Umfrage ist ganz klar ersichtlich, welche Aspekte die meiste Überlastung herbeiführen würden, denn 82 Prozent nannten den hohen bürokratischen Aufwand, 78 Prozent den Personalmangel, 77 Prozent die psychische Belastung und 53 Prozent die Ressourcenknappheit als sehr oder eher belastend. „Es ist eindeutig, dass zusätzlich zu den Themen, die schon vor der Pandemie schuld an der Arbeitsmisere vieler Kolleginnen und Kolle-gen waren, jetzt auch noch mit enormer Wucht die psychische Belastung durch die Pandemie dazugekommen ist“, erklärt Gingold.
„Seit Jahren fordern wir seitens der Ärztekammer eine bürokratische Entlastung sowie eine verbesserte Infrastruktur in den Spitälern – wie lange wollen hier die Verantwortlichen noch tatenlos zusehen?“, fragt Gingold.
92 Prozent der Befragten stimmten zu, dass Patientinnen und Patienten ebenfalls unter überlasteten Ärztinnen und Ärzte leiden würden. Für 98 Prozent sei daher evident, dass man im Corona-Krisenmanagement die Ärzteschaft endlich stärker einbeziehen müsse. 89 Prozent sagten auch eindeutig, dass Ärztinnen und Ärzte für ihre Leistungen derzeit unterbezahlt seien.
„Wir haben eines der besten medizinischen Gesundheitssysteme der Welt. Aber alles hat seine Grenzen. Die weltweite Pandemie hat auch hier Spuren hinterlassen und das Gesundheitspersonal, das davor schon am Limit war, ist jetzt längst jenseits dieses Limits angelangt. Der Knopf für einen Neustart muss jetzt gedrückt werden“, fordert Gingold.
„Wichtige Erkenntnisse“ aus Pandemie
Die Ärzteschaft hat in der Umfrage auch „wichtige Erkenntnisse“ für dringende Maßnahmen geliefert, die nach Ansicht von Gingold raschest umgesetzt werden sollten: 98 Prozent gaben an, dass eine voraussehende Personalplanung hinsichtlich der Arbeitszeiten notwendig wäre, 97 Prozent fordern mehr geschultes Fachpersonal für die Intensivstationen und 80 Prozent wünschen sich mehr psychologische Betreuung, sowohl für die Ärzteschaft als auch für die anderen Berufsgruppen.
95 Prozent fordern grundsätzlich mehr Personal in allen Bereichen, 85 Prozent eine bessere IT-Infrastruktur. In Bezug auf die Pandemie benötigen die Spitäler aus Sicht von 80 Prozent der Befragten mehr Intensivbetten, für nicht-pandemische Zeiten sehen immer noch 72 Prozent den Bedarf an zusätzlichen Betten. Für 81 Prozent benötigt es zudem bessere Hygienemaßnahmen.
„Diese Umfrage sollte den Verantwortlichen endlich die Augen öffnen“, resümiert Gingold die Antworten seiner Kolleginnen und Kollegen. „Es ist ein Armutszeugnis für unser Gesundheitssystem, dass man es soweit überhaupt hat kommen lassen. Viele Probleme sind altbekannt, jetzt kassieren wir in Krisenzeiten die Rechnung dafür.“
Neustart und Investitionsoffensive gefordert
„Es braucht jetzt einen Neustart und eine Investitionsoffensive, um die Probleme in den Spitälern ein für alle Mal zu lösen“, fordert Gingold von den Arbeitgebern und politisch Verantwortlichen. Die Ärzteschaft habe die Probleme benannt, nun müsse umgehend Geld für das öffentliche Gesundheitswesen in die Hand genommen werden.
„Die Ärztekammer nimmt jedenfalls dieses Ergebnis sehr ernst und fordert Politik und Spitalsträger auf, die Ergebnisse dieser Studie zu nutzen und entsprechend gegenzusteuern“, meint Gingold und bietet die Expertise der Ärztekammer an, um gemeinsam diese Herausforderung zu meistern.
„Wenn wir nicht jetzt reagieren, werden wir im Herbst bei einer etwaigen weiteren großen Pandemie-Welle wieder massive Probleme in unseren Spitälern haben“, so Gingold abschließend. Das müsse um jeden Preis – „koste was es wolle“ – verhindert werden.