Interview Global Health

„Wir agieren beim Thema Gesundheitswesen extrem national"

Ökonomische Zusammenhänge von Gesundheit und Krankheit, blinde Flecken in der so genannten Biomedizin und die Hoffnung, ob Corona strukturell etwas am großen Ganzen ändern kann: medinlive sprach mit der Global-Health-Expertin Janina Kehr im zweiten Teil des Interviews unter anderem über die Sichtbarkeit von Krankheit, sich verändernde Bedeutungen von „gesund“ und „krank“ und die Rolle des Einzelnen, wenn es etwa um Prävention geht.

Eva Kaiserseder

medinlive: „Gesund“ und „krank“ sind Begrifflichkeiten, die wir mit der größten Selbstverständlichkeit verwenden, dabei sind sie natürlich eingebettet in einen größeren sozialen, politischen Kontext. Was fällt Ihnen dazu ein?

Kehr: Gesundheit ist heutzutage im Alltag ein omnipräsenter Begriff. Die Fokussierung auf Gesundheit anstelle von Krankheit zum Beispiel hat in den letzten 70 Jahren stark zugenommen, was man auch an der WHO-Definition sieht. Es geht dabei nicht nur um die Abwesenheit von Krankheit, sondern auch um mentales, soziales und physisches Wohlbefinden. Krankheit wird dabei nicht weniger wichtig, aber Krankheit und Gesundheit werden zu einem Kontinuum. Man sollte sich also genau anschauen, was es für Menschen bedeutet, krank oder gesund zu sein, wie und ob Menschen an unterschiedlichen Orten für ihre Gesundheit oder Krankheit Sorge tragen bzw. tragen können. Und welche globalen Zusammenhänge es zwischen Gesundheit, Krankheit und Ökonomischem, Sozialem und Politischem gibt. Als Anthropolog:innen ist es unsere Aufgabe, solche globalen und lokalen Zusammenhänge von Krankheit und Gesundheit zu verstehen und darüber nachzudenken.

Hier gibt es teilweise blinde Flecken in der Biomedizin, da sie Krankheiten vor allem nosologisch, also einzelne Krankheitsprozesse betreffend, erklären, was auf gewisse Art nicht mehr zeitgemäß ist. Zum Beispiel hängen Umweltverschmutzung und Krankheit ja auf vielerlei Art und Weise komplex und diffus zusammen. Bei der Ergründung von Krankheitsursachen sollte es also auch darum gehen, Zusammenhänge vom Mikrobiellen bis hin zum Sozialen und Globalen mitzudenken. Auch Fragen der Planetary Health, also der Gesundheit von menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen in der sie umgebenden Umwelt, haben damit zu tun.

medinlive: Die Frage, die sich mir stellt, ist, woher diese Entwicklung kommt und ob das im Umkehrschluss heißt, dass Krankheit weniger sichtbar ist, wenn wir nicht gerade in einer Pandemie stecken?

Kehr: Es bedeutet nicht, dass ein Bereich weniger wichtig ist, aber die Grenzen verschieben sich kontinuierlich. Zum Beispiel ist der Übergang bei chronischen Krankheiten fließend, bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen etwa. Sind Menschen mit erhöhtem Blutdruck krank oder gesund, wenn sie sich nicht krank fühlen, aber medikamentös behandelt werden? Oder anders gefragt: Wie gesund ist noch nicht krank? Das ist sozusagen das Motto unserer westlichen, reichen Welt und eine Frage, der schon einige Historiker und Philosophen, wie Georges Canguilhem, im 20. Jahrhundert nachgegangen sind.

medinlive: Der Wandel oder die Erweiterung weg von der reinen Reparaturmedizin wird also noch dauern. Welchen Stellenwert hat die Prävention und wann darf ich das Label „gesund“ für mich beanspruchen? Vieles in diesem Bereich hat ja auch mit der Selbstwahrnehmung zu tun.

Kehr: Die Frage, die sich stellt, ist ja auch, ob man krank ist, wenn man ein bestimmtes Krankheitsrisiko hat? Diese Frage reicht auch weit in epidemiologische Bereiche hinein, was man nun auch aktuell sieht. Diese ganze Frage der Risikobewertung ist relativ neu in der Geschichte. Wenn Blutwerte ein gewisses Risiko andeuten, ich aber Medikamente nehme, um das Risiko minimieren und ich mich nicht krank fühle, dann ist das eine ganz andere Sache als Schmerzen zu haben und sich nicht mehr gesund genug zu fühlen, um sein Leben und seinen Alltag zu leben. Die Frage ist auch, welche Prävention ich selbst betreiben kann. Das Milieu spielt nach wie vor eine Rolle, wenn auch nicht mehr so extrem wie noch vor hundert Jahren.

Die Idee ist also, dass die Verantwortung für Gesundheit auf das Individuum verschoben wird. Sprich: Wenn ich immer ungesund esse, gefährde ich langfristig meine Gesundheit. Allerdings ist es in manchen sozialen bzw. ökonomischen Situationen schwierig, sich gesund zu ernähren. Zudem hat die Nahrungsmittelindustrie nicht unbedingt ein Interesse daran, unverarbeitete Nahrungsmittel in Umlauf zu bringen. Über solche systemischen Fragen wird allerdings weniger gesprochen, außer vielleicht in der kritischen Epidemiologie.

Johns Hopkins 19. Jahrhundert
Spitäler wie das 1876 gegründete Johns Hopkins Hospital im US-amerikanischen  Baltimore (hier um 1880) sind heute Zentren der Forschung und Hochleistungsmedizin. (c) public domain via wikicommons

 

medinlive: Können wir auf das Thema Milieu und Krankheit noch näher eingehen?

Kehr: Ich habe früher zu Tuberkulose geforscht, also einer klassischen Armutskrankheit. Schon bevor der eigentliche Erreger bekannt war, wusste man, diese Krankheit herrscht unter Armen viel schlimmer als bei Begüterten. Was man früher „Milieu“ nannte, also soziale Beziehungen, Wohnsituation und ökonomische Lage, war zentral im Verständnis der Epidemie. Als noch keine Antibiotika vorhanden waren, wurde im Kampf gegen die Tuberkulose auch immer wieder gefordert, die Umgebung zu verändern, Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern, um damit die Chancen des Individuums auf Gesundheit zu stärken. Und diese Situation hat sich ja nicht verändert, hier müssen wir uns nur die Diskussionen um Covid-19 anschauen.

Es war und ist wichtig, Individuen in Bezug auf Krankheit und Gesundheit nicht ohne ihre Verknüpfungen mit der sozialen und natürlichen Umwelt zu sehen. Die soziale Lage hat zum Beispiel starken Einfluss auf die Lebenserwartung, überall auf der Welt. Als Beispiel erwähne ich hier Madrid: Etwa zehn Jahre beträgt die Differenz in der Lebenserwartung zwischen Bewohnern des reichen Nordens der Stadt zum eher ärmeren Süden. Das ist nichts Neues, aber es wird nach wie vor zu wenig unternommen, um das zu ändern, denn vieles ist politisch bedingt und Wandel passiert nur schrittweise.

medinlive: Was sind die Hauptfaktoren für dieses Ungleichgewicht?

Kehr: Gründe sind meines Erachtens nach komplexe, historisch gewachsene, intersektionale und ökonomische Ungleichheiten, die gegenwärtige Gesellschaften weiter reproduzieren. Ungleiche Lebenschancen werden dabei nicht ausreichend unterbrochen.

medinlive: Ich habe bisher bewusst das Wort Corona ob dessen Omnipräsenz vermieden. Trotzdem stelle ich hier die beinahe schon klassische Frage: Können Krisen langfristig gesellschaftliche Änderungen bewirken?

Kehr: Die Aufbruchsstimmung und der Ruf nach mehr Solidarität wurden vor allem im ersten Lockdown zumindest im Kleinen gelebt. Hoffnung habe ich also eher für Veränderungen, die auf nachbarschaftlicher oder lokaler Ebene stattfinden. Was das große Ganze angeht bestehen nach wie vor enorme Ungleichheiten, da hat sich leider nicht viel geändert. Nehmen wir lediglich den Impfstoff: In Österreich wird schon seit Monaten geboostert, während in vielen Ländern des globalen Südens, vor allem afrikanischen Ländern, Impfstoff nach wie vor Mangelware ist. Unter anderem aufgrund von Patentrechten und Profitstreben von an der Börse dotierten Pharmaunternehmen. Da sehe ich leider aktuell wenig Hoffnung auf Veränderung.

Das erinnert mich an die Wirtschaftskrise von 2008, als viele auf eine Erneuerung des Finanzsystems hofften, was so nie eingetreten ist. Technologien wie der mRNA-Impfstoff sind natürlich wichtig, aber gleichzeitig wird durch die Impfung das globale Ungleichgewicht im Umgang mit Covid-19 noch sichtbarer und stärker, und nicht-medizinische Möglichkeiten des Umgangs mit der Pandemie, wie etwa Arbeitsplatzsicherheit, saubere Luft und soziale Unterstützung, nicht nur im Krankheitsfall, treten in den Hintergrund. Große soziale Änderungen, sozusagen von oben, erwarte ich mir also eher nicht durch die Pandemie. Das Virus hat sich zwar global verbreitet, gleich sind wir aber vor ihm nicht. Auch agieren wir in Wahrheit wieder extrem national, was beispielsweise Grenzschließungen, die Impfung und das Gesundheitswesen betrifft. Das finde ich zwar bedauernswert, es kommt für mich allerdings wenig überraschend, da Gesundheitssysteme nach wie vor nationalstaatliche Unterfangen sind.

medinlive: Ich bedanke mich für das Gespräch!

 

Zur Person

Janina Kehr wurde 1978 in Mainz geboren. Die deutsche Medizinanthropologin und Global-Health-Expertin studierte in Göttingen sowie in Santa Cruz und absolvierte ihr Doktorat in Paris und Berlin. Anschließend verbrachte sie zehn Jahre in der Schweiz, an den Universitäten Zürich und Bern. Seit diesem Jahr ist sie Professorin für Medizinanthropologie und Global Health an der Universität Wien. Die Professur wurde neu gegründet.

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Janina Kehr
Janina Kehr ist Medizinanthropologin und Global-Health-Expertin. Seit 2021 ist sie Professorin für Medizinanthropologie und Global Health an der Universität Wien. Die Professur wurde neu gegründet.
Eva Meillan-Kehr
„Es war und ist wichtig, Individuen in Bezug auf Krankheit und Gesundheit nicht ohne ihre Verknüpfungen mit der sozialen und natürlichen Umwelt zu sehen."
„Große soziale Änderungen, sozusagen von oben, erwarte ich mir (...) eher nicht durch die Pandemie."