Pflege

„Tropfen auf dem heißen Stein“

Die kürzlich von der Regierung angekündigte Erhöhung des Förderung für Menschen, die auf eine 24-Stunden-Betreuung angewiesen sind, hat eine Reihe von Organisationen auf den Plan gerufen. „Ein Tropfen auf dem heißen Stein“ bezeichnet ein pflegender Angehöriger in einem Pressegespräch am Freitag in Wien die 90 Euro mehr im Monat.

ct/Agenturen

Nach Plänen der Regierung soll die Pflegegeldförderung mit Jänner 2023 von 550 Euro auf 640 steigen. Anspruch darauf haben generell Personen, die die Einkommensgrenze von 2.500 Euro nicht überschreiten und eine Pflegestufe 3 haben. Dabei handelt es sich um selbständige Personenbetreuer/innen, die sich in der Regel im Turnus (meist 14 Tage) abwechseln. 

„Eine Verhöhnung“ nannte Sachverständiger Mario Tasotti die Erhöhung bei der Pressekonferenz. Tasotti sowie Personen, die selbst auf eine 24-Stunden-Betreuung angewiesen sind, kritisierten, dass die Förderung seit ihrer Einführung nie valorisiert wurde. Konkret fordern sie neben einer Inflationsanpassung einen Qualitätsbonus für die Finanzierung qualitätssichernder Maßnahmen sowie einen Fairnessbonus, damit Betreuerinnen höhere Honorare gezahlt werden können. Insgesamt spreche man hier von 800 bis 900 Euro zusätzlich im Monat.

„Die aktuelle Teuerungen führen dazu, dass diese Familien finanziell ans Limit kommen. Die Wurzel ist aber, dass die 24-Stunden-Betreuung seit jeher benachteiligt wird“, so Tasotti. Eine 24-Stunden-Betreuung koste im Monat durchschnittlich 3.240 Euro, rund 2.700 Euro davon haben die Familien selbst zu stemmen, zusätzliche Mietkosten und Verköstigung nicht mit einberechnet. Im Pflegeheim würden hingegen 60 Prozent der Kosten beigesteuert werden. „Eine eklatante Ungerechtigkeit“, so Tasotti.

Rückgang an Pflegekräften

In Österreich würden rund 32.000 Menschen von einer 24-Stunden-Betreuung unterstützt. Über 24.000 Betreuerinnen kommen aus der Slowakei, über 27.600 aus Rumänien. Über die Hälfte der Betreuerinnen sind zwischen 45 und 59 Jahre alt. Insgesamt sind 65.000 Betreuerinnen offiziell in Österreich erfasst, weitere 10.000 bis 15.000 ohne Rechtsgrundlage.  3.000 weniger als im Jahr 2019. Den Grund für den Rückgang an Pflegekräften sieht Tasotti in zu geringen Honoraren.

Etwa 1.200 Euro monatlich beträgt der durchschnittliche Verdienst einer Betreuerin. Die Bezahlung richtet sich erfahrungsgemäß nach Tagsätzen. Der Preis für die Dienstleistung wird häufig von Agenturen festgelegt. Diese geben einen Tagsatz von circa 65 Euro an (Stand 2022). Dazu kommen Sozialversicherungsbeiträge der Betreuerinnen. Diese liegen laut Agenturen bei etwa 18 Euro pro Tag. Die Reisekosten für eine Betreuerin liegen abhängig von der zurückzulegenden Strecke bei üblicherweise 70 bis 160 Euro für Hin- und Rückfahrt.

Lohndumping, Nachzahlungen, psychische Belastung

Im freien Wettbewerb würden Agenturen versuchen, die Löhne zu drücken, warnen die Gewerkschaften vida und vidaflex, die gewerkschaftliche Initiative für Ein-Personen-Unternehmen und Neue Selbständige. Acht von zehn Betreuerinnen arbeiten über Agenturen. Gleichzeitig wenden Klient:innen ihre Pension, Pflegegeld und eine Förderung der Länder auf, um ihre Betreuung bezahlen zu können. „Das hat dazu geführt, dass sich nicht wohlhabende Familien dazu genötigt sahen, zu versuchen, die Honorare für die Betreuer:innen zu drücken. Das ist ein unhaltbarer Zustand für beide Seiten“, kritisiert der vidaflex-Generalsekretär Lipinski im November 2021 gegenüber „Kontrast.at“

Ein anderes Problem kann rückwirkend auf 24-Stunden-Betreuerinnen zukommen, etwa wenn sie mit Nachforderungen und Rechnungen konfrontiert sind. Bei vielen Frauen sind sogar Vollmachten, eine weitverbreitete Praxis, wie die Grüne Wirtschaft (GW) gemeinsam mit der Interessenvertretung IG24 gegenüber dem „Standard“ beklagt. Für die An- und Abmeldung des Gewerbes und alle weiteren bürokratischen Prozesse ist dann die Agentur zuständig. Und weil manche dieser Aufgabe nicht nachkommen, hängen vielen Betreuerinnen tausende Euro Schulden bei der SVS nach, kritisiert Anja Haider-Wallner von der GW.

Die Arbeit als 24-Stunden-Kraft ist zudem belastend. Wie sehr, das hat das Institut Reichmann Research Consulting (RRC) im Auftrag von vidaflex und vida vor einem Jahr in 2.200 Online-Interviews ermittelt. Als besonders belastende Faktoren wurden genannt: „Falsche Informationen über die zu betreuende Person seitens einer Vermittlungsagentur“ oder „von der zu betreuenden Person selbst“, „zu wenig Schlaf während der Betreuungsarbeit“ sowie „seelisch belastende Arbeit“. Etwa zwei Drittel der Befragten nannten „schlechte Arbeitsbedingungen im Haushalt der zu betreuten Person“, die „räumliche Distanz zur Familie im Heimatland“, „zu wenig Rückzugsraum am Arbeitsplatz“, „unkorrektes Verhalten eines Angehörigen der zu Betreuenden“ oder das „Heranziehen zu Arbeiten, die dem Berufsbild nicht entsprechen“ als besonders belastende Faktoren.

Soziale Absicherung der Betreuerinnen gefordert

Auf die schlechten Arbeitsbedingungen von 24-h-Betreuuerinnen haben zuletzt Amnesty International, die Interessensgemeinschaft der 24-Stunden-Betreuer*innen IG24 und CuraFAIR (Volkshilfe) im Sommer diesen Jahres hingewiesen. In einem offenen Brief an Sozialminister Johannes Rauch und Arbeitsminister Martin Kocher forderten die Organisationen eine Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen sowie eine verpflichtende Agenturen-Zertifizierung.

Die NGOs erhob den Vorwurf, dass das rechtliche Rahmenwerk in Österreich die Ausbeutung von Betreuerinnen im großen Stil zulässt. In einem Bericht wurden dabei die enorm schlechte Bezahlung und übermäßig lange Arbeitszeiten angeführt, sowie das Fehlen eines gesicherten arbeitsrechtlichen Schutzes oder Zugang zu sozialen Leistungen wie Krankenversicherung. „Problematisch sei, dass die Betreuerinnen meist offiziell als selbstständig gelten, aber in Wahrheit keine Autonomie in der Ausgestaltung des Arbeitsumfeldes, der Arbeitszeiten oder der Bezahlung haben“ – wie auch in dem Bericht von Amnesty International festgestellt wird. Dadurch würden sie weder in den Schutz von Arbeitnehmerinnenrechten kommen, noch könnten sie in ihrer Selbstständigkeit frei über ihre Arbeitsbedingungen entscheiden.

Auch fordern die NGOs eine Qualitätssicherung durch verpflichtende Zertifizierung für Vermittlungsagenturen. Derzeit seien nur fünf Prozent der Agenturen dem nachgekommen, wie Schlack kritisiert. Das Modell basiere auf Freiwilligkeit. Der Markt um die rund 600 Vermittlungsagenturen besteht abgesehen von einigen wenigen gemeinnützigen Trägerorganisationen wie Caritas, Volkshilfe, Hilfswerke mit überwiegender Mehrheit aus privaten Unternehmen.

24 Stunden Betreuung finanziell absichern

Kürzlich machte auch der Pflegedienst MALTESER Care darauf aufmerksam, dass sich mehr betreute Personen die Betreuung nicht mehr leisten können „Die Betroffenen kommen für Kost und Logis sowie die Fahrtkosten der Betreuerinnen auf, ebenso für deren Honorare. Alles zusammen unterliegt der Inflation, erst recht angesichts der aktuellen, krisenbedingt massiven Teuerungswelle“, warnte Malteser Care Geschäftsführer Helmut Lutz kürzlich in einer Aussendung

Lutz mahnt bald zu handeln, denn der Pflegebedarf steigt. Schätzungen gehen demnach davon aus, dass bis 2050 die Anzahl auf 230.000 ansteigen wird. Vier von fünf Demenzkranken leben zu Hause und drei von vier werden von Familienangehörigen betreut, die mehrheitlich über 60 Jahre alt sind. „Hier kann die 24 Stunden Betreuung maßgeblich zur Unterstützung und Entlastung pflegender und sorgender Angehöriger beitragen“, erläutert Helmut Lutz. 900.000 pflegende und sorgende Angehörige, davon mehrheitlich Frauen, könnten die chronisch Kranken von morgen sein, wenn Unterstützungsleistungen wie die 24 Stunden Betreuung nicht mehr finanziert werden. 

Aufgrund des demografischen Wandels und des steigenden Pflegebedarfs braucht Österreich bis 2030 rund 100.000 Pflege- und Betreuungskräfte. Hier ist die 24-Stunden-Betreuung noch gar nicht mitgerechnet.

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