Einen regelrechten Info-Tsunami gibt es zu dem Thema mittlerweile: Gefühlt im Wochentakt gibt es neue Erkenntnisse und Hypes rund um die Ernährung. Seien es die segensreichen Versprechungen diverser Nahrungsergänzungsmittel, ketogene Ernährung, um den Stoffwechsel auf das Optimum zu programmieren oder eines der vielen Wundermittel gegen Darmprobleme: Wir glauben alle, einigermaßen Bescheid zu wissen, was hilft und was nicht. Ein Trugschluss?
„Das Patientenwissen zum Thema Ernährung hat natürlich durch das Internet bedingt enorm zugenommen, auch die Nachfrage nach ernährungsmedizinischen Erkenntnissen ist stark gestiegen. Die Menschen wollen wissen, ob man zum Beispiel Omega-3-Fettsäuren bedenkenlos zu Gerinnungsmitteln nehmen kann, was bei einer glutensensitiven Enteropathie zu beachten ist oder wie man seinen Diabetes besser einstellen kann. Vielfach kommen die Patient:innen mit großem Vorwissen in die Praixs, das aber nicht wissenschaftlich fundiert ist und zudem auch für große Verunsicherung sorgt. Die Ärzt:innen, die befragt werden, spielen hier eine zentrale Rolle“, erklärt Kurt Widhalm, Kinderarzt, Ernährungsmediziner und Vorreiter des Fachs in Österreich. Grundsätzlich nimmt das Thema Ernährungsmedizin im Curriculum des Medizinstudiums übrigens momentan wenig Raum ein, drei bis vier Stunden sind der derzeitige Umfang im gesamten Studium, egal ob man in Wien, Linz oder Graz studiert.
Belohnen statt Strafen
Wichtig sei bei der ärztlichen Beratung übrigens keineswegs eine weitere Vermehrung von Wissen, so Widhalm, sondern eher eine ernährungsmedizinische Schulung. Damit gemeint ist, das Handeln der Patient:innen zu verändern, denn „Informationen sind genügend da, gerade Menschen mit ernährungsabhängigen Krankheiten etwa Fettstoffwechselerkrankungen oder koronaren Herzkrankheiten, wissen enorm viel über gesunde Ernährung, sie halten sich aber nicht daran. Unser ärztliches Hauptanliegen muss also sein, das Verhalten zu verbessern. Und wissenschaftlich fundierte Informationen zur Verfügung zu stellen.“ Es sei ein Spannungsfeld, in dem man hier agiert, so Widhalm. Denn gerade hier gibt es vielfach unqualifizierte, populärwissenschaftliche Aussagen von Nicht-Mediziner:innen, die dem Ruf des Fachs mehr schaden als nutzen.
Verbote hält Widhalm in Sachen Verhaltensänderungen für wenig hilfreich. Die x-te, womöglich wissenschaftlich schon obsolete Ernährungspyramide, die erklärt, was man auf keinen Fall essen darf, bringt seiner Meinung nach herzlich wenig: „Es braucht viel eher ein Anreizsystem, ein Bonus/Malussystem. Wer gesünder lebt – und dazu zählt nicht nur die Ernährung – soll Vorteile haben. Dazu gehört etwa mehr Sport, nicht zu rauchen und sich grundsätzlich öfter zu bewegen.“ Eine Blutfettreduktion oder verbesserte Entzündungswerte sind Indizien für den Erfolg einer Ernährungs- und Verhaltensumstellung.
Modifizierte Diät bringt mehrfache Benefits
Ein Grund, warum Ernährungsmedizin momentan einen eher untergeordneten Stellenwert hat, ist die Pharmakologie. Oder besser gesagt, die Bedeutung von Medikamenten. Dass wir hierzulande einen kurativen statt präventiven Zugang in der Medizin pflegen, sei kein Geheimnis. „Oft empfiehlt Ihnen der Arzt, zwar natürlich gut gemeint, eine Diät, wenn zum Beispiel die Cholesterinwerte nicht in Ordnung sind, aber in den meisten Fällen bekommen Sie umgehend das Rezept für einen Cholesterinsenker. Dabei wissen wir, dass eine fettmodifizierte Diät das Cholesterin um 10 bis 15 Prozent senken kann und in Kombination mit Medikamenten sogar um bis zu 50 Prozent“, betont Widhalm. Auch beim Typ-2-Diabetes seien zusätzliche Positiveffekte wie Gewichtsreduktion und in Folge der Diät eine Medikamenteneinsparung bekannt. Diese Aspekte, die durch die moderne Pharmakologie sozusagen in den Hintergrund geraten sind, sollten dringend wieder in den Vordergrund gerückt werden, so Widhalm.
Inwiefern hier Nahrungsergänzungsmittel für die Gesundheit von Nutzen sind? „An sich halte ich sehr viel von ihnen, allerdings sehe ich ein Problem darin, dass sie vielfach von Menschen eingenommen werden, die sie eigentlich nicht bräuchten.“ Menschen, die ohnehin viel Wert darauf legen, sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben und die dann als zusätzliches Extra Supplemente nehmen. Wo Nahrungsmittel absolut Sinn machen und nötig sein können, ist etwa bei entzündlichen Darmerkrankungen, nach Chemotherapien oder einer Antibiotikaeinnahme. Auch Senioren, vor allem Menschen in Altersheimen, haben vielfach einen Mangel an Mikronährstoffen und profitieren von Nahrungsergänzungsmitteln, betont Widhalm.
So habe eine Studie in Wiener Altersheimen gezeigt, dass rund die Hälfte der Bewohner einen Albuminmangel hat und einen mangelhaften Eisen- sowie Vitamin-D-Status aufweist. „Hier braucht es eine gezielte Diagnostik, keine Trinknahrung nach dem Schema F, die jeder bekommt. Und dazu brauchen wir Ärzt:innen, die sich mit dem Thema beschäftigen und auskennen. Die eine individuelle Ernährungstherapie zusammenstellen nach dem Prinzip der Präzisionsmedizin.“
Große Zunahme der Fettleibigkeit bei Kindern
Ein weiteres Thema, das brennt, ist gerade durch die Corona-Pandemie sehr deutlich geworden: Übergewicht und Adipositas, vor allem bei jungen Menschen und Kindern. Schon länger gilt Übergewicht und damit assoziierte Krankheiten quer durch alle Altersgruppen als „Volkskrankheit“. Eine Langzeitstudie der MedUni Wien aus dem letzten Jahr, die anhand der Gesundheitsdaten junger Männer beim österreichischen Bundesheer erstellt wurden, zeigte: Die Prävalenz für Übergewicht ist massiv gestiegen.
Übergewicht und Adipositas I-III stiegen von 15,3 Prozent, 4,2 Prozent, 1,2 Prozent und 0,4 Prozent (2003) auf 20,4 Prozent, 7,1 Prozent, 2,5 Prozent bzw. 0,8 Prozent (2018). Insgesamt 25,7 Prozent der jungen Männer wurden als nicht für den Wehrdienst tauglich bzw. teiltauglich eingestuft. Das bedeutet in der Folge auch eine Zunahme kardiovaskulärer Erkrankungen und Diabetes sowie eine verkürzte Lebenserwartung. Weiters zeigte sich in der Studie ein signifikanter Zusammenhang zwischen erhöhtem BMI und einem niedrigeren Bildungsgrad sowie dem sozioökonomischen Status.
Bei Kindern ist das Thema Übergewicht noch einmal ein größeres, so stieg in Österreich der Anteil der übergewichtigen oder fettleibigen Kinder zwischen sieben und zehn Jahren auf 26,2 Prozent im März 2021. Vor der Pandemie lag der Wert im September 2019 bei 20,7 Prozent (Siehe Infobox). Neben körperlichen Problemen, die dabei auftreten, gibt es auch deutliche psychische Probleme, die durch Übergewicht entstehen: „Menschen, die stark übergewichtig sind, werden benachteiligt, gerade bei Jugendlichen sehen wir das sehr genau. Das wird aber vielfach nicht wirklich zur Kenntnis genommen“, so Widhalms Kritik.
Präventionsprojekte wie etwa in Wiener Schulen („EDDY“– Effect of sports and diet trainings to prevent obesity and secondary diseases and to influence young children´s lifestyle) sollen schon früh zeigen, wie Ernährung besser und gesünder geht, ohne den Kindern dabei auf die Finger zu klopfen und sie von oben herab zu belehren. „Es wird zum Beispiel ganz konkret gezeigt, wie man gemeinsam eine gesunde Jause macht, es gibt Exkursionen oder sportliche Therapien und dann wird geschaut, wie derartige Interventionen wirken. Ob es Verbesserungen gab im Vergleich zu denjenigen Gruppen, wo es keine derartigen Dinge passierten. Es gibt ganz klare Daten in vielen Bereichen, wo wir zeigen konnten, dass diese Dinge, wenn sie permanent gemacht werden, viel bringen: Weniger Körperfett, weniger Gewichtszunahme und mehr Fitness“, plädiert Widhalm für derartige Modelle. Wesentlich sei bei all dem, wissenschaftlich ganz genau zu evaluieren, wie erfolgreich man damit ist – oder eben nicht. „Es ist gut gemeint, solche Angebote zu setzen, aber sinnlos, wenn keine Auswertung da ist.“
EDDY
Jubiläumskongreß Österreichisches Akademisches Institut für Ernährungsmedizin
Adipositas in Zahlen
Die Kombination aus verringerter körperlicher Aktivität und schlechterer Ernährung während der Corona-Pandemie hat – zumindest vorübergehend – dazu geführt, dass unter den Kindern und Jugendlichen die Übergewichts- und Adipositasraten anstiegen. Es wurden mehr Kinder und Jugendliche übergewichtig und diejenigen, die es bereits waren, nahmen weiter an Gewicht zu. So stieg in Deutschland die Prävalenz der Fettleibigkeit in den ersten drei Monaten der Pandemie bei den Sechs- bis Zwölfjährigen von 13,2 Prozent auf 14,6 Prozent und bei den Zwölf- bis 18-Jährigen von 18,5 Prozent auf 18,9 Prozent.
In Österreich stieg der Anteil der übergewichtigen oder fettleibigen Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren von 20,7 Prozent im September 2019 auf 26,2 Prozent im März 2021. Gemäß Statistik Austria sind in Österreich derzeit 3,7 Millionen Menschen über 15 Jahre übergewichtig, rund 17 Prozent von ihnen haben bereits Adipositas.
Zur Person
Kurt Widhalm wurde 1946 in Linz geboren. Nach dem Medizinstudium in Wien arbeitete er von 1971 bis 1973 am Institut für Medizinische Physiologie an der Universität Wien. Dort beschäftigte er sich mit analytischen Fragen des Stoffwechsels und der Ernährung.
Ab 1973 war Widhalm an der dortigen Universitäts-Kinderklinik tätig. Dort baute er die Fettstoffwechselambulanz und Ernährungsberatung der Klinik auf. 1977 wurde er Facharzt für Kinderheilkunde, 1980 habilitiert er sich in diesem Fach. 1988 wurde er, damals schon a.o. Universitätsprofessor, Leiter des österreichischen Früherfassungs- und Behandlungsprogrammes für angeborene Stoffwechselstörungen. 1992 erfolgte die Ernennung zum Vorstand der Internen Abteilung und zum ärztlichen Direktor des damaligen Mautner´Markhofschen Kinderspitals der Stadt Wien.
1995 kehrte er an die Universitäts-Kinderklinik zurück. 2003 erfolgte die Ernennung zum Professor für Ernährungsmedizin und zum Leiter der Abteilung für Ernährungsmedizin der Universität Wien, ab 2004 der Medizinischen Universität Wien, wo er bis zu seiner Emeritierung tätig war. Aktuell leitet er das von ihm maßgeblich mitaufgebaute Österreichische Akademische Institut für Ernährungsmedizin (ÖAIE) in Wien.