Mit dem Sudan (88 Prozent) und Äthiopien (54 Prozent) nennt Mardini zwei weitere Staaten, die derzeit massiv unter der Inflation leiden. Doch gerade in Konfliktregionen würden die Sorgen an dem Punkt nicht enden. „Humanitäre Akteure, seien sie lokal oder international, erhalten nun weniger Gelder, um wachsende Bedürfnisse zu stillen. Die Rechnung lautet also: Größer werdende humanitäre Not, meist getrieben von einem bewaffneten Konflikt, und ein schrumpfendes Budget erschwert unsere Möglichkeiten, Leid zu lindern“, beklagt Mardini. Auch das IKRK zahle nun mehr für Lebensmittel, ebenso wie für Produkte zur medizinischen Versorgung.
Die Teuerung mitverursacht hat der Krieg gegen die Ukraine. Den dortigen Einsatz bezeichnet Mardini als den „tragischerweise größten“ des IKRK. Man sei mit über 800 Leuten im Einsatz und arbeite mit nationalen Rotkreuzorganisationen und -partnern zusammen. Seit der Zerstörung des Kachowka-Staudammes versuche man etwa, die Wasserversorgung wiederherzustellen, damit die Bevölkerung, vor allem jene in Cherson, das unterhalb des Staudamms an der Mündung des Dnipro liegt, Zugang zu sauberem Wasser hat. Außerdem entschärfe man Minen, die durch den Dammbruch weggeschwemmt wurden.
Arbeit inmitten von Kriegen und Krisen
Dem IKRK steht nach der Dritten Genfer Konvention Zugang zu Kriegsgefangenen zu. Im Zuge des Ukraine-Krieges habe man bisher 1.500 Gefangene auf beiden Seiten besucht. „Das ist nicht genug“, kritisiert Mardini, „wir drängen darauf, Zugang zu allen Kriegsgefangenen zu bekommen.“ Über den Zustand der Inhaftierten, insbesondere darüber, ob es Unterschiede gebe, wie die Kriegsparteien ihre Gefangenen behandeln, darf Mardini keine Auskunft geben. „Es ist Teil unseres vertraulichen Dialogs“, begründete Mardini diesen Sachverhalt. „Wenn wir anfangen würden, unsere Beobachtungen, die Haftbedingungen, zu schildern, würde das IKRK jegliche Zutrittsmöglichkeit verlieren.“ Es sei ein Grundprinzip des IKRK, sich nicht politisch zu äußern. „Wir fokussieren auf humanitäre Bedürfnisse, die Prioritäten der Menschen, und wir sind in Dialog mit allen Konfliktparteien, damit wir die Front überqueren und unsere lebensrettende Arbeit verrichten können“, betont Mardini.
So behandle die Organisation in Gao (Mali) Verletzte, ganz gleich, auf welcher Seite die Personen stünden. „Das internationale humanitäre Recht erlaubt sogar verwundeten Soldaten oder Kämpfern, medizinische Behandlung zu erhalten.“
In Genf hat die Organisation ein Zentrum eingerichtet, bei dem sich Angehörige von Vermissten melden und nach Informationen fragen können. Knapp 80 Leute arbeiten laut Mardini dort. Sie würden täglich hunderte Anrufe bekommen und gegebenenfalls mitteilten, wo sich eine Person befindet. „Wir sind sehr transparent gegenüber Familienmitgliedern. Doch es gibt Familien, die keine Neuigkeiten bekommen, weil wir keinen Zutritt zu ihren geliebten Menschen erhalten. Das IKRK hat aber keine Möglichkeit, den Zugang zu einer Haftanstalt zu erzwingen.“
Unlängst hatten Angehörige von zwei ukrainischen Kriegsgefangenen das Rote Kreuz dafür kritisiert, nicht energisch genug Zutritt zu den beiden Inhaftierten zu fordern. Mardini sagte allerdings: „Das Ziel ist nichts weniger als alle Kriegsgefangenen zu besuchen.“ Genaue Zahlen zu den Kriegsgefangenen könne man nicht nennen, meint Mardini, da die Zahlen ständig variierten und es immer wieder einen Austausch von Gefangenen gebe.
Klimawandel zusätzliche Gefahr
Die größte globale Bedrohung abseits bewaffneter Konflikte sieht Robert Mardini im Klimawandel. „Gleichzeitig sind 80 Prozent der humanitären Nöte weltweit durch Konflikte verursacht.“ Die bittere Ironie: „Wenn man die 25 am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder nimmt, tobt in 60 Prozent von ihnen bereits ein Konflikt.“ Die Verwundbarsten der Verwundbarsten seien sehr oft betroffen von Multikrisen betroffen.
Weltweit sind dem IKRK zufolge 360 Millionen Menschen von bewaffneten Konflikten betroffen. Von diesen gibt es über 100, und einige dauern seit Jahrzehnten an – ohne Ende in Sicht, so Mardini. Einen einzelnen von der Öffentlichkeit unbeachteten möchte der Generaldirektor nicht nennen. Stattdessen ruft er etliche in Erinnerung: im Jemen, in Mali, in Burkina Faso, im Niger, in Somalia und in Äthiopien. In Tigray herrsche seit zwei Jahren Nahrungsmittelunsicherheit und es gebe Kinder unter fünf Jahren, die an Mangelernährung litten. „Wir versuchen, mittels Ernährungsprogrammen die Lage zu stabilisieren“, sagt der IKRK-Generaldirektor.