Im Interview mit „medinlive“ spricht der Suchtexperte über eine beinah revolutionäre Änderung in der Diagnostik, Stichwort DSM-5, ob es so etwas wie weibliche und männliche Süchte gibt und seine Wunschvorstellung, wie Menschen mit dem ewig lockenden Thema Rausch koexistieren könnten.
medinlive: Die aktuellen OECD Daten bescheinigen Österreich in Bezug auf Alkohol-, und Zigarettenkonsum kein gutes Zeugnis. Woran liegt das?
Musalek: Das liegt an zwei Hauptfaktoren. Einerseits gibt es in Österreich ein relativ niedriges Risiko-, bzw. Problembewusstsein hinsichtlich Alkohol und Nikotin. Andererseits ist die Verfügbarkeit beider Substanzen hierzulande besonders gut. Was unter Verfügbarkeit allerdings zu verstehen ist, ist nicht nur, wie rasch und leicht ich an eine Substanz herankomme, sondern auch deren gesellschaftliche Akzeptanz.
Über das Thema Rauchen brauche ich diesbezüglich wohl über den Kurs unserer derzeitigen Regierung kein weiteres Wort verlieren. Wenn man so mit dem Thema umgeht, fördert man natürlich den Konsum auf allen Ebenen. Dass Österreich hier in einer Art und Weise nachhinkt, wie es fast unglaublich ist, ist schlicht ein europaweiter Spezialfall. Auch global tut sich in diesem Bereich enorm viel, selbst in Hongkong darf auf der Straße nicht mehr geraucht werden! Und die Chinesen, immerhin eine der großen Rauchernationen, halten sich daran. Alkohol ist in Österreich ebenfalls extrem verfügbar. Er ist gesellschaftlich hoch anerkannt und quasi 24 Stunden am Tag flächendeckend zu recht günstigen Preisen zu erstehen. Außerdem überschneiden sich bei bei uns nördliches und südliches Trinkverhalten auf unselige Weise: Im Norden wird rauschhaft getrunken, in großer Menge, aber mit abstinenten Phasen dazwischen. Der Süden trinkt eher in geringen Mengen, dafür stetig. Diese Faktoren erklären die OECD Zahlen grob zusammengefasst.
medinlive: Welche Sucht ist der heimische „Spitzenreiter“?
Musalek: Eindeutig Nikotin, wobei eine Konkretisierung von Zahlen beim schambesetzten Thema Sucht natürlich per se schwierig ist. Wir gehen aber von 1,3 bis 1,6 Mio. Nikotinabhängigen aus, außerdem schätzen wir, dass es in Österreich rund 350.000 alkoholabhängige Menschen, zwischen 120.000 und 250.000 Medikamentenabhängige und ungefähr 30.000 Drogenkranke gibt, die illegale Substanzen konsumieren.
medinlive: Gibt es so etwas wie eine Prädisposition beim Thema Sucht?
Musalek: Wenn Sie vorbestehende Persönlichkeitsmerkmale meinen: Nein, die gibt es tatsächlich nicht. Das zeigen uns alle Studien und Erfahrungswerte. Es kommt allerdings im Laufe der Sucht zu einer Nivellierung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale in Richtung Passivität. Konkret heißt das, man entwickelt sich in eine Richtung, in der man seine Probleme von außen gelöst haben möchte, unter anderem eben mittels Substanzen. Ich würde aber sagen, das sind Reaktionen auf schon bestehende Suchterkrankungen.
Wo es sehr wohl Prädispositionen gibt, ist, wenn man in einem so genannten alkoholpermissiven Milieu aufwächst. Dort wird eventuell auch viel geraucht, getrunken sowieso, und alle finden das völlig normal. Dort ist die Chance natürlich größer, selbst zu viel zu trinken und vor allem, es nicht oder zu spät zu merken.
Eine genetische Prädisposition beim Alkohol würde ich vielleicht am ehesten noch insofern verorten, dass jemand, der Alkohol nur schwer abbauen kann, müde und benommen wird, wahrscheinlich weniger trinkt als jemand, der Alkohol körperlich gut verträgt. Wenn die zusätzliche genetische Disposition bei jemandem, der ihn gut verträgt, dann noch in Richtung Angststörung oder Depression tendiert, dann kann es sich dahin entwickeln, dass Alkohol als Medikament eingesetzt wird und das recht schnell in eine Abhängigkeit mündet.
medinlive: In der Suchtforschung hat sich enorm viel getan in den letzten Jahrzehnten, was waren für Sie als Experte die einschneidensten Zäsuren?
Musalek: Da gibt es drei Bereiche, die ich als sehr wichtig sehe: Störungen wie Depressionen und Angstsyndrome, im Rahmen von Suchterkrankungen, wurden früher immer als comorbide Folgeerkrankungen angesehen . Heute weiß man aber, dass die Suchterkrankung selbst die Comorbidität ist. Das heißt, es gibt praktisch keinen Suchterkrankten, der nicht auch andere Erkrankungen hat. Sehr häufig sind das eben Depressionen, die Ausgangspunkt von Suchterkrankungen sind. Diagnostik und Therapie sind damit wesentlich komplexer geworden.
Die zweite, fast revolutionäre Entwicklung ist die Erweiterung der jahrzehntelang etablierten ICD-Kriterien. Diese anerkannte Diagnostik funktioniert gut, war und ist aber eine Spätdiagnostik. Das heißt, jemand muss schon lange manifest suchtrank sein, um die Diagnose zu bekommen.
Nun gibt es aber die amerikanischen DSM-5 Kriterien, die auf eine viel frühere Diagnostik abzielen. Die DSM-5 Kriterien sind noch relativ jung, werden aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im ICD-Katalog umgesetzt werden. Damit ist es uns erstmals möglich, eine Frühdiagnostik zu erstellen. Patienten mit hochproblematischem Konsum, die früher noch nicht als suchtkrank definiert worden wären, können damit viel früher diagnostiziert werden. Hinsichtlich der Therapie heißt das, man kann bei jemandem, der noch nicht körperlich süchtig ist, auch das Therapieziel moderates Trinken anstreben. Das ist vor dem Hintergrund des Abstinenzparadigmas für erwähnte schwer körperlich abhängige Suchtkranke eine echte Revolution.
Und die dritte wesentliche Neuerung war für mich eine neue therapeutische Zielsetzung. Das neue Therapieziel autonomes und freudvolles Leben stellt uns vor neue Herausforderungen. Es gilt mit Hilfe eines individualisierten, ressourcenorientierten Behandlungsprogramms den suchtkranken Menschen die Möglichkeit für ein freudvolles Leben zu eröffnen; im Idealfall verliert damit das Suchtmittel an Attraktivität und wird zum Störfaktor. Hier darf das Anton Proksch Institut mit Fug und Recht behaupten Vorreiter zu sein und mit der Etablierung des „Orpheusprogramms“ einen entscheidenden Beitrag geliefert zu haben.
medinlive: Wir haben die Frühdiagnostik ja schon erwähnt. Der Grat zwischen problematischem Verhalten und Sucht ist ja ein schmaler. Woran kann ich festmachen, dass ein Patient die Grenze überschritten hat?
Musalek: Insgesamt gibt es sechs Suchtkriterien. Wenn drei davon über mehrere Wochen oder Monate zutreffen, dann wird man als suchtkrank diagnostiziert. Das zentrale Kriterium ist der Kontrollverlust. Man kann man nicht mehr steuern, wie oft und wie viel man trinkt. Dann gibt es es die Toleranzentwicklung, die in Österreich leider oft unter dem anerkennend vorgetragenen „Der verträgt aber viel!“ fungiert. In Wahrheit muss die Dosis schlicht erhöht werden, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Ein weiteres essentielles Kriterium ist das „Craving“, also das Verlangen. Bitte verwechseln Sie das nicht mit dem umgangssprachlichen „Gusto!“ Vielmehr ist das in etwa so, wie wenn Sie frisch verliebt sind, dieser Mensch stirbt und Sie keine Idee haben, wie Sie den nächsten Tag überstehen sollen. Das erleben unsere Patienten hier. Sie wissen nicht wie der Tag ohne Suchtmittel weitergehen soll. Die nächsten Punkte sind körperliche Entzugssyndrome, etwa wenn ein gewisser Spiegel des Suchtmittels unterschritten wird bzw. körperliche, soziale und psychische Konsequenzen, die man wegen seines Konsums bereits hat, negiert werden.Als allerletzter und besonderer Punkt gilt, wenn sich das ganze Leben nur mehr um die Substanz dreht. Egal, ob es um den Konsum selbiger geht oder um die Bemühungen, damit aufzuhören.
medinlive: Ich würde nun gerne das Thema Gender beleuchten: Gibt es männliche und weibliche Süchte?
Musalek: Heute nicht mehr, früher gab es diese durchaus. Da galt zum Beispiel der Alkohol als Domäne des Mannes und Medikamentensucht als weibliches Revier. Diese Eindeutigkeit verschwimmt aber zunehmend. Was auch damit zusammenhängt, dass die Frauen bei der Alkoholkrankheit extrem aufholen. Früher gab es eine 4:1 Relation, das heißt, auf vier alkoholkranke Männer kam eine Frau, heute ist das zur 3:1 Relation geworden. Ganz extrem sichtbar ist das bei den Jugendlichen unter 16. Bei jenen Jugendlichen, die schon regelmäßig Alkohol konsumieren und die bereits vielfache Rauscherfahrungen aufweisen besteht ein 2:1 Verhältnis. Man kann also damit rechnen, dass in 20 Jahren das Genderverhältnis auch bei der Alkoholkrankheit auf ähnliche Werte angewachsen sein wird.
medinlive: Stichwort beschleunigter Lifestyle: Welche Süchte werden denn durch Dauerreichbarkeit und steigenden Leistungsdruck getriggert?
Musalek: Dass sämtliche Suchtmittel so effizient sind, macht sie – leider- zum Alltags-Doping der heutigen Zeit, um ein Vokabular aus dem Sport zu verwenden. Die wenigsten nehmen Substanzen ja für den Genuss, sondern setzen sie für einen ganz bestimmten Zweck ein. Leistungssteigernde Substanzen wie Amphetamine oder Kokain helfen im Beruf, während Alkohol und Tranquilizer beim „Abschalten“ eingesetzt werden. Das zieht sich heute quer durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen.
medinlive: Und welche „neuen“ Süchte kommen auf uns zu?
Musalek: Bei den stoffungebunden Suchtformen gibt es eine, die exorbitant boomt, und das ist wohl wenig überraschend die Onlinesucht. Wobei wir hier unterscheiden müssen zwischen Menschen, die Glücksspiele online spielen und Menschen, die in so genannte Persönlichkeitsspiele wie „World of Warcraft“ hineinkippen. Und dann gibt es noch den Social Media Bereich, wo die Betroffenen ohne diese Plattformen nicht mehr auskommen. Wenn man diesen Menschen zwei Stunden das Handy wegnimmt, haben sie tatsächlich Entzugserscheinungen. Wir gehen davon aus, dass es hier nochmals massive Zuwachsraten an problematischem Verhalten und Suchterkrankungen geben wird, wenn man sich die vergangenen 20 Jahre und das Wachstum der sozialen Medien anschaut.
Das große Problem im Bereich Online und Social Media besteht darin, dass die Betroffenen immer jünger werden. Gerade in der Reifungszeit nur vor dem Handy und dem Rechner zu sitzen kann zu massiven Defiziten führen. Schließlich sind Entwicklungsfenster wie für den Spracherwerb oder im zwischenmenschlichen Bereich, wo man den Umgang mit dem anderen Geschlecht lernt, nur begrenzt geöffnet. Schlussendlich ist online sein ein großes, menschliches Experiment unter völlig unkontrollierten Bedingungen, von dem wir nicht ansatzweise wissen, wie es ausgehen wird.
medinlive: Würden Sie zum Abschluss unseres Gesprächs eine Prognose wagen, wohin sich das Thema Sucht in Europa entwickeln wird?
Musalek: Es hängt viel damit zusammen, ob sich die politischen Akteure auf bestimmte Wege einigen können. Um wieder zum Thema Rauchen zurückzukehren: Wenn hier die Verfügbarkeit minimiert wird und nur unter bestimmten Auflagen an bestimmten Orten geraucht werden darf, dann wird das die Zahl derer, die zur Zigarette greifen, extrem positiv steuern. Man steuert damit auch das Problembewusstsein nicht nur unserer und Ihrer Generation, sondern vor allem auch der kommenden Generationen. Vieles hat sich ja in den vergangenen Jahrzehnten schon zum Positiven gewandelt beim Rauchen. Früher wurde munter im Krankenhaus oder Flugzeug geraucht und jedes Formel- 1- Auto war mit Zigarettenwerbung gebrandet. Heute wäre das undenkbar. Leider stehen wir mit dem aktuellen Regierungskurs europaweit sehr isoliert da. Alle anderen Länder sind da wesentlich weiter als wir in Österreich. Ähnliche Entwicklungstendenzen wie einst beim Rauchen verorte ich beim Thema Alkohol. Wenn Sie sich heute das Hahnenkammrennen anschauen, was passiert da? Um elf Uhr vormittags, vor dem Start der Übertragung, wird ein Werbespot eingespielt, in dem sich ein ehemaliger Skiheld ein Bier aufmacht. Heute fällt das noch den Wenigsten auf, wie absurd das eigentlich ist, aber ich bin überzeugt davon: Das wird sich mittelfristig ändern.
medinlive: Was würden Sie sich ganz persönlich zum Thema Mensch und Sucht wünschen?
Musalek: Alkohol wird immer getrunken werden und Glücksspiel wird es auch immer geben. Es geht darum, wie wir damit umgehen. Ob wir Gefahren und Risiken richtig einschätzen. Ich bin da sehr optimistisch, dass wir Menschen uns das aneignen können. Grundsätzlich wären wir ja eine lernfähige Spezies (lacht). Wenn wir es schaffen, mit einem Minimum an Risiko ein Maximum an Lebensqualität zu erreichen, wäre das wunderbar.
medinlive: Ich bedanke mich sehr herzlich für das Gespräch!
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