„Das Thema Daten ist ein zweischneidiges Schwert"
Der gebürtige Linzer Bernhard Benka leitet seit Kurzem in der AGES den Bereich Öffentliche Gesundheit und war einer, der die Coronapandemie in Österreich von Anfang als medizinischer Experte begleitet hat. Im ersten Teil des medinlive-Interviews erzählt er, warum das Epidemiologische Meldesystem (EMS) unter Wert verkauft wurde, wie das Epidemiegesetz idealerweise aussehen könnte und wieso er sich für den Arztberuf entschieden hat.
Bernhard Benka hat über viele Jahre für die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ gearbeitet, auf mehreren Kontinenten, hauptsächlich gegen Infektionskrankheiten kämpfend. Vor einigen Jahren entschied er sich, nach Österreich zurückzukehren. „Die Sehnsucht, Familie und Freunde öfter als nur zu Besuchsanlässen zu sehen, war irgendwann zu groß“, so der Public Health Experte. Der Arztberuf war für ihn schon seit jeher Thema, denn Benka wollte einen Beruf, der ihm ermöglichte, überall auf der Welt zu arbeiten. Ein Mitgrund dafür war sein Vater, ein Physiker, der schon früh die Familie zu Forschungsaufenthalten in die USA oder Japan mitnahm. Das prägte den Sohn und „relativ bald im Studium habe ich dann begonnen, die Welt zu bereisen und meine Famulaturen im Ausland, in meinem Fall in Uganda, Nepal und Brasilien, zu organisieren. Dort gab es dann natürlich auch schnell Berührungspunkte mit dem Thema Public Health bzw. eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Gesundheitssystemen“, skizziert Benka seinen Ausbildungsweg. Das Konglomerat aus Fachlichem, Sprache und Kultur, der Umgang mit den Themen Gesundheit und Krankheit, war und ist faszinierend für ihn.
Nach seiner Rückkehr aus dem Ausland hat Benka fünf Jahre im Gesundheitsministerium gearbeitet, als Leiter der Abteilung für übertragbare Krankheiten. Und nun, seit heuer, die AGES, in einer strategisch so wichtigen Position in Zeiten der größten globalen Gesundheitskrise seit rund 100 Jahren.
medinlive: Im Zuge der aktuellen Coronapandemie wurde der AGES oft vorgeworfen, zu wenige oder zu ungenaue Daten zu liefern. Wie begegnen Sie dem?
Bernhard Benka: Ich würde eher das Gegenteil behaupten, denn das EMS, das Epidemiologische Meldesystem, das in Österreich seit 2009 existiert, ist meiner Meinung nach eher unter Wert verkauft worden. Oftmals sind Krisen ein Ventil für etwas, das vorher eher unter der Oberfläche geschlummert hat und nicht von der breiten Masse wahrgenommen wurde. Und dass es ein System wie das EMS überhaupt gibt, wussten die wenigsten außerhalb der Fachwelt.
Bei der Gründung 2009 hatte kaum ein Land in Europa so etwas wie das EMS. Man muss sich dabei vor Augen halten, was das EMS überhaupt ist: Ein System, in welchem jede meldepflichtige Infektionskrankheit von Labors und Ärztinnen und Ärzten in Echtzeit eingemeldet werden kann, wobei die Labore dazu sogar gesetzlich verpflichtet sind, und auf diese Daten haben die Bezirksverwaltungsbehörden direkten Zugriff. Damit sind die Meldewege so kurz wie möglich gehalten.
Jedenfalls ist es ein Tool, in dem die Entwicklung von Infektionskrankheiten praktisch im selben Moment beobachten werden kann, keine Selbstverständlichkeit. In Deutschland bastelt zum Beispiel das RKI schon länger an einem ähnlichen elektronischen Meldesystem. Aber um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Das EMS war von Anfang an nach einer kurzen Adaptierung an die neu entdeckte Krankheit ein hilfreiches Tool in der Pandemie. Dass jedes System bei einer gewissen Belastung an seine Grenzen kommt und das EMS nicht dafür ausgelegt ist, täglich tausende Fälle zu registrieren, steht außer Frage. Hier wurde aber auch schnell Abhilfe geschaffen. Nach wie vor ist das EMS aber sicherlich die wertvollste Datengrundlage für die Bezirksbehörden und die AGES.
Und zum Thema Datenverfügbarkeit muss man grundsätzlich sagen: Es ist ein zweischneidiges Schwert. Teilweise war die Kritik berechtigt, dass es zu wenige Daten gibt, was man aber schwerlich der AGES vorwerfen kann, denn es braucht gesetzliche Grundlagen die der AGES erst den Zugang zu diesen Daten ermöglichen. Andererseits gibt es bekanntlich den Datenschutz, aus dessen Warte kritisiert wurde, dass die Fülle an Datenmaterial zu wenig Schutz persönlicher Daten bietet. Diese zwei Pole müssen immer wieder austariert werden, das ist ein sich stetig wandelnder Prozess. Ein absoluter Meilenstein ist übrigens vor Kurzem passiert, nämlich die Möglichkeit, den e-Impfpass mit dem EMS zu verschneiden. Das heißt, es gibt ab sofort für die AGES die Möglichkeit, zu jedem einzelnen Fall die zugehörigen Impfdaten abzurufen – eine wichtige Voraussetzung für die von uns betriebene Vakzinepidemiologie.
Das Epidemiologische Meldesystem (EMS) ist eine gemeinsame Datenbank aller österreichischen Bezirksverwaltungsbehörden (BVB), aller Landessanitätsdirektionen, des Gesundheitsministeriums sowie der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) gem. § 4 Epidemiegesetz 1950, in das sämtliche anzeigepflichtige Erkrankungen eingemeldet werden, woraus ein entsprechendes Register erstellt wird.
Diese Daten werden parallel, gemäß § 4a Epidemiegesetz in ein Statistikregister überführt, das der Statistik und der wissenschaftlichen Forschung dient. Die auf dieser Plattform zur Verfügung gestellten Daten basieren auf diesem Statistikregister. Die Daten werden den Forschungseinrichtungen nach erfolgter Akkreditierung zugänglich gemacht.
Primär dient das System den Bezirksverwaltungsbehörden dazu, Aufgaben zu erfüllen, welche die Durchführung von Erhebungen des Auftretens anzeigepflichtiger Krankheiten betreffen. Bei der Meldung ist grundsätzlich zwischen Arzt- und Labormeldepflicht zu unterscheiden.
medinlive: Nach wie vor ist es schwierig, herauszufinden, wie viele ungeimpfte und geimpfte Personen auf den Intensivstationen liegen. Ist es absehbar, ob und wann die AGES dazu Daten bekommt?
Benka: Das ist eine unserer nächsten Baustellen. Die Problematik dabei ist: Es gibt keine gesetzliche Grundlage, auf der wir diese Daten bekommen könnten. Es hängt davon ab, ob der Gesetzgeber ein derartiges Gesetz verabschiedet. Wir hätten diese Daten natürlich gerne zu unserer Verwendung, derzeit ist das aber nicht mehr als ein frommer Wunsch. Eine Option wäre unter Umständen, das einzelne Krankenhausträger mit der AGES eine Form der Kooperation eingehen, um diese Daten in spezifischer Form aufzubereiten. Aber wie gesagt, für eine österreichweite Darstellung fehlt schlicht die gesetzliche Grundlage.
Das österreichische Epidemiegesetz stammt aus den 1950er Jahren und wurde im Zuge der Coronapandemie immer wieder adaptiert. Anfangs war die doch sehr veraltete Gesetzgebung aber sogar von Vorteil, wie Bernhard Benka betont, „denn Gebiete unter Quarantäne zu setzen, einen Cordon sanitaire zu errichten...das hätte sich anno 2020 niemand vorstellen können.“
medinlive: Welche Änderungen wären für Sie aus infektiologischer Sicht im Epidemiegesetz relevant?
Benka: Bei einer Aktualisierung sollte jedenfalls dem Thema Impfen ein breiterer Raum eingeräumt werden, auch das Monitoring von Antibiotikaresistenzen könnte verbindlicher dargestellt werden. Ganz wichtig wäre auch das Geschlechtskrankheitengesetz, welches großteils noch aus dem Jahre 1945 stammt: In Österreich gibt es diesbezüglich eine beschränkte Meldepflicht, die besagt, dass die Ärztin oder der Arzt selbst entscheiden kann, ob sie oder er Krankheiten wie etwa Gonnorhoe melden, wenn sie oder er das Risiko einer Weiterverbreitung sehen. Je nach Gutdünken wird da also sehr willkürlich entschieden und die Zahlen, die wir dazu haben, sind nicht repräsentativ.
medinlive: Wie war es für Sie persönlich, pandemiebedingt plötzlich medial so präsent zu sein und das in so großem Umfang?
Benka: Die Medienpräsenz war schon Teil meiner Jobdescription im Ministerium, aber vor Corona hat es weniger Gelegenheit dazu gegeben. Mir war das deswegen nicht völlig neu oder fremd. An sich war das Arbeitsumfeld und das Setting keine so große Umstellung, denn es hat mich durchaus an die Arbeitsweise bei „Ärzte ohne Grenzen“ erinnert. Teilweise hatte die Arbeit gerade am Anfang der Pandemie Einsatzcharakter, man musste sehr dynamische Personen finden, einen Krisenstab aufbauen und dann sieben Tage die Woche an die 15 Stunden pro Tag arbeiten. So etwas ist natürlich nicht für und mit jedem umsetzbar und seither gab es ja auch keine wirklich ruhigen Phasen mehr.
Teil 2 des Interviews mit Bernhard Benka lesen Sie in der kommenden Woche.
Die AGES
Die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH (AGES) ist ein Unternehmen der Republik Österreich. Eigentümervertreter sind das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz und das Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus. Die AGES besteht seit 1. Juni 2002.
Die AGES unterstützt das Management der Bundesministerien in Fragen der Öffentlichen Gesundheit, Tiergesundheit, Lebensmittelsicherheit, Arzneimittelsicherheit, Ernährungssicherung und des Verbraucher*innenschutzes entlang der Nahrungskette fachlich und unabhängig mit wissenschaftlichen Expertisen.
Die Klimawandelanpassung ist neben der Reduktion von Antibiotikaresistenzen, der Bekämpfung des Internetbetruges und dem Aufbau eines Lebensmittelkompetenzzentrums eine der wissenschaftlichen und unternehmerischen Schwerpunkte der AGES in den kommenden Jahren mit einem interdisziplinären One-Health-Ansatz.
Eine Neuerung betrifft die Gründung des Instituts für Infektionsepidemiologie am Standort Wien im Sommer 2021 unter der Leitung der Epidemiologin Daniela Schmid.
Das Institut umfasst 35 Mitarbeiter*innen und vier Abteilungen (Abteilung Data Science & Modellierung, Abteilung Ausbruchsabklärung, Abteilung Surveillance und Abteilung Daten-Qualitätssicherung/Administration).