„Die Ideallösung hat leider niemand"
Der gebürtige Linzer Bernhard Benka leitet seit Kurzem in der AGES den Bereich Öffentliche Gesundheit und war einer, der die Coronapandemie in Österreich von Anfang als medizinischer Experte begleitet hat. Woran er sich in Zeiten umfassender Infoflut fachlich orientiert hat, was er von den gelockerten Quarantäneregeln in den Schulen hält und was seine „Herzensthemen“ sind, erläutert er im zweiten Teil des medinlive-Interviews.
medinlive: Wir sind ja alle geflutet worden mit unglaublich vielen Infos. Wo haben Sie als Fachmann Ihre Infoanker gehabt, welche Experten waren für Sie wichtig?
Bernhard Benka: Da es praktisch keine Erfahrungswerte gab, war es zum Teil natürlich auch ein weltweites trial and error, die Parameter haben sich dann erst langsam herausgebildet. Man hat sich nach den anfänglichen Informationen aus China von Evidenz zu Evidenz bewegt.
Es haben global gesehen ja viele Experten damit gerechnet, dass ein pandemisches Geschehen kommen wird, und es nur eine Frage der Zeit ist, wann. Aber dass ausgerechnet ein Coronavirus dafür verantwortlich sein könnte, schien unwahrscheinlich, die Fachwelt tippte eher auf Influenza. Darauf waren die Länder auch vorbereitet.
Zur Ursprungsfrage nach meinem eigenen Expertenpool kann ich sagen, das war natürlich die WHO, gerade am Anfang, und das ECDC (European center of disease prevention, Anm. d. Red.). Ich habe mit dem ECDC auch schon im Ministerium sehr eng zusammengearbeitet und diese Synergien waren sehr gut. Hier gab es viele Telefonkonferenzen, man tauschte sich zu den Themen Teststrategien, Quarantänemaßnahmen oder Entlassungsmanagement aus und diese Vernetzung hat sehr gut funktioniert. Anfangs haben fast alle Länder in der Pandemie ähnlich agiert, dann haben sich die Strategien logischerweise verändert. Ab diesem Zeitpunkt war es dann extrem wichtig, gut zu argumentieren, warum man diese oder jene Maßnahme trifft. Man war zu jedem Zeitpunkt natürlich nur so schlau, wie man evidenzbasierte Informationen als Entscheidungsgrundlage hatte.
Österreich ist zum Glück im internationalen Vergleich bisher relativ gut durch die Krise gekommen, man kann via Euromomo (Statistikprojekt zur Übersterblichkeit in Europa, Anm.d. Red.) auch die Übersterblichkeit recht gut mitverfolgen. In Österreich gab es in der zweiten und dritten Welle doch eine Übersterblichkeit, die aber geringer ausfiel als in vielen anderen Ländern.
medinlive: Wie dynamisch ist das Thema Impfdurchbrüche derzeit? Auf der AGES-Site lassen sich diese ja nachlesen und zuletzt gab es eine recht hohe Zahl, woher stammt das?
Benka: Es ist ein dynamisches Geschehen, weil die Zahl der Geimpften steigt. Die korrekte Kommunikation dieser Zahlen und deren Verständnis ist natürlich wichtig
Die Zahlen sind deswegen hoch, weil es immer mehr Geimpfte gibt. Als Beispiel: Gäbe es hundert Prozent Geimpfte, ist jede Infektion, die wir registrieren, ein Impfdurchbruch. Wenn in einer Gruppe von zehn Personen acht geimpft sind und jeweils ein Geimpfter und ein Ungeimpfter erkrankt, also zwei Fälle, haben wir 50 Prozent der Fälle als Impfdurchbruch. Das gibt aber nicht wieder, dass von acht Geimpften nur einer erkrankt ist und von den Ungeimpften jeder zweite. Die Impfeffektivität ist ja unvermindert hoch.
Wenn 80, 90 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, dann ist eine Infektion mit hoher Wahrscheinlichkeit also ein Impfdurchbruch. Ungeimpfte haben aber weit höhere „Chancen“ zu erkranken. Je mehr geimpft wird, desto mehr steigen die Impfdurchbruchszahlen.
medinlive: Thema Kinder: Bekanntlich sind die Quarantäneregeln ja im September gelockert worden, finden Sie das aus medizinischer Sicht vertretbar?
Benka: Die Ideallösung hat leider niemand, es geht um ein Austarieren der Risken. Die Parameter haben sich während der Pandemie verschoben. Am Anfang und bevor Long Covid auf der Bildfläche erschienen ist, war klar: Diejenigen, die das größte Risiko haben zu erkranken oder gar zu sterben, müssen wir impfen. Wenn diese Gruppe geimpft ist, können wir uns der restlichen Bevölkerung in Ruhe widmen. Bei Kindern gibt es nach wie vor eine geringe Gefahr für einen schweren Verlauf, aber natürlich tragen Kinder das Virus dann in die Familien, was man auch vermeiden möchte. Und als Elternteil will man logischerweise auch nicht zu dem geringen Prozentsatz gehören, dessen Kind dann vielleicht doch erkrankt. All das musste bedacht werden und vor diesem Hintergrund ist die Regelung, die wir derzeit haben, zu Stande gekommen. Ich denke, es herrscht ein breiter Konsens, dass geschlossene Schulen die allerletzte Konsequenz sein müssen. Die Alternative ist ein engmaschiges Testen. Und die Verkürzung der Quarantäne halte ich für vertretbar. Ich persönlich bin jedenfalls ein Verfechter offener Schulen.
medinlive: Sehen Sie eine Notwendigkeit der Corona-Impfpflicht für Gesundheitspersonal und Lehrkörper?
Benka: Die Impfpflicht beim Gesundheitspersonal ist ja schon länger eine Forderung des Ministeriums, regional wird das ohnehin schon oft umgesetzt bei Neuanstellungen. Beim schon bestehenden Personal würde ich mir auch wünschen, dass eine Impfpflicht kommt, aber man muss sich wohl auch die Personalsituation ansehen. Ich denke, als Prämisse könnte gelten: Da, wo Menschen andere betreuen, die selbst noch keine Chance auf eine Impfung hatten, sollten sie nicht der Gefahr einer vermeidbaren Infektionskrankheit ausgesetzt werden. Es ist natürlich eine große gesamtgesellschaftliche Thematik, denn jede Form von Impfpflicht schlägt Wellen. Ich denke aber, hier sollte man ganz offen in jede Richtung diskutieren.
medinlive: Wird die EMA Ihrer Einschätzung nach die Impfung für Kinder unter 12 Jahre noch heuer freigeben?
Benka: Hier kann ich nur vermuten, aber ich persönlich glaube, ja, das wird passieren. Pfizer/Biontech hat ja bereits die ersten Daten für unter Zwölfjährige veröffentlicht.
medinlive: Um noch kurz bei der Impfung zu bleiben: Sollte der Drittstich nur für vulnerable Gruppen kommen oder für die breite Masse der Geimpften?
Benka: Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, das Nationale Impfgremium beschäftigt sich momentan unter anderem damit und empfiehlt es aktuell für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Bekanntlich gibt es Länder, die hier schon viel breiter aufgestellt sind – Stichwort Israel. Und der Drittstich wäre mengen- und logistikmäßig eher kein Problem. Allerdings drängt zum Beispiel die WHO darauf, mehr Ländern zumindest den Erst- und Zweitstich zu ermöglichen. Die Politik ist hier in einem Spannungsfeld, denn natürlich will man der jeweiligen Bevölkerung den bestmöglichen Schutz bieten. Zudem weiß auch noch niemand, ob es dann mit einem Drittstich getan sein wird oder wir, ähnlich bei der Influenza, ohnehin mit Auffrischungsimpfungen arbeiten müssen.
medinlive: Was ist denn in Österreich an Zoonosen und Infektionskrankheiten abseits von Corona gerade relevant oder könnte relevant werden?
Benka: Man wird sich stärker damit beschäftigen müssen, was zuvor als so genannte Reisekrankheiten bezeichnet worden ist. Denguefieber etwa oder Chikungunya. In diesem Zusammenhang wird oft die Asiatische Tigermücke erwähnt. Die ECDC publiziert regelmäßig Karten, wo die Tigermücke schon endemisch ist. Seit vielen Jahren endete das Ausbreitungsgebiet mehr oder weniger an der Südgrenze Österreichs. Heuer wurden aber auch in Wiener und Grazer Kleingartenvereinen relativ große Populationen gefunden, nur: Adulte Moskitos überleben den Winter bei uns nicht. Deren Eier überstehen einen milden Winter theoretisch allerdings schon, nämlich bis zu minus zehn Grad. Wenn im Frühjahr dann die Larven schlüpfen, wäre das der erste Schritt hin zu einer heimischen Population. Allerdings gilt ja, eine Mücke macht noch keine Krankheit. Dazu braucht es dann auch noch den Erreger und einen empfänglichen Wirt.
medinlive: Zum Schluß die Frage nach den ganz persönlichen „Herzensthemen“: Was beschäftigt Sie hier?
Benka: Ich halte die „klassischen“ Themen bei den Infektionskrankheiten nach wie vor für sehr wichtig, HIV/AIDS zum Beispiel, da hat sich auch einiges getan. Seit ein paar Jahren gibt es Selbsttests, wobei hier zur Debatte stand, wie man die Problematik abfedert, dass jemand unter Umständen zuhause und alleine ein positives Testergebnis bekommt. Es wurde hier dann viel mit Servicehotlines gearbeitet und so ein wichtiger Schritt etabliert. Es ist ja erst im Zuge der Covidpandemie bei der breiten Masse angekommen, dass es Schnelltests für Infektionskrankheiten gibt. Bei „Ärzte ohne Grenzen“ haben wir sehr viel damit gearbeitet, weil die große Laborinfrastruktur natürlich oft nicht gegeben war. Dann gibt es bezüglich HIV noch das Thema PrEP, also die Prä-Expositions-Prophylaxe, mit der man eine potentielle HIV-Infektion vermeiden kann. Hier stellt sich die Frage, ob man die PrEP nicht doch niederschwellig und kostenfrei für alle zugänglich machen soll, derzeit kostet sie noch rund 60 Euro im Monat.
Weiters gibt es dann noch sustainable development goals wie die Elimination von Tuberkulose und Hepatitis C als Public Health Herausforderung, denn bis 2030 sollen diese Infektionskrankheiten in den westlichen Industrienationen kein Thema mehr sein. Es gibt aber nach wie vor immerhin an die 500 Tuberkulosefälle jährlich in Österreich. Im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 ist das etwas angestiegen, die Zahl bewegt sich aber immer im dreistelligen Bereich. Hier stellt sich die Frage: Wartet man darauf, ob und wann eine Tuberkulose ausbricht oder screent man auf latente Tuberkulose, also, ob jemand den Erreger in sich trägt?
Für Hepatitis C gibt es ja seit ein paar Jahren eine kurative Therapie. Oftmals sind Menschen durch den intravenösen Gebrauch von Spritzbesteck für den Drogengebrauch infiziert worden und Therapietreue ist in diesem Setting manchmal eine Herausforderung. Die anfangs teuren Medikamente waren schwer zu bekommen, werden aber jetzt von der Krankenkasse bezahlt. Hepatitis C ist eine meldepflichtige Krankheit, es gibt aber sicherlich eine Dunkelziffer. Hier gute Modelle zu erarbeiten, an die Zielgruppen heranzukommen und mit ihnen die Therapie ohne Abbruch zu machen muss das Ziel sein.
Wichtig sind dann sicherlich noch die emerging diseases, also Infektionskrankheiten, deren Vorkommen in den letzten Jahrzehnten gestiegen ist oder die in naher Zukunft wahrscheinlich auftreten werden. Dazu gehören natürlich zoonotische Erreger wie neuartige Influenzaviren oder das West-Nil-Virus. Diese betreffen ja oft nicht nur den Menschen, sondern auch unsere Umwelt und die unterschiedlichsten Lebensräume.
medinlive: Ich bedanke mich für das Gespräch!
Die AGES
Die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH (AGES) ist ein Unternehmen der Republik Österreich. Eigentümervertreter sind das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz und das Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus. Die AGES besteht seit 1. Juni 2002.
Die AGES unterstützt das Management der Bundesministerien in Fragen der Öffentlichen Gesundheit, Tiergesundheit, Lebensmittelsicherheit, Arzneimittelsicherheit, Ernährungssicherung und des Verbraucher*innenschutzes entlang der Nahrungskette fachlich und unabhängig mit wissenschaftlichen Expertisen.
Die Klimawandelanpassung ist neben der Reduktion von Antibiotikaresistenzen, der Bekämpfung des Internetbetruges und dem Aufbau eines Lebensmittelkompetenzzentrums eine der wissenschaftlichen und unternehmerischen Schwerpunkte der AGES in den kommenden Jahren mit einem interdisziplinären One-Health-Ansatz.
Eine Neuerung betrifft die Gründung des Instituts für Infektionsepidemiologie am Standort Wien im Sommer 2021 unter der Leitung der Epidemiologin Daniela Schmid.
Das Institut umfasst 35 Mitarbeiter*innen und vier Abteilungen (Abteilung Data Science & Modellierung, Abteilung Ausbruchsabklärung, Abteilung Surveillance und Abteilung Daten-Qualitätssicherung/Administration).