Hutter: „Es wird nicht die letzte Krise bleiben“
Krisen machen auch sichtbar, wie gut öffentliche Gesundheitssysteme aufgestellt sind. Mit der Corona-Pandemie kam das Thema Public Health vermehrt in den Blick, zeigte Mängel und Lösungen. Der Umweltmediziner Hans-Peter Hutter ortet ein steigendes politisches Bewusstsein für den Bereich. Sein Forderungskatalog an die Politik ist dennoch lang. Empfehlungen werden oft bekämpft, wie er im Gespräch mit „medinlive“ erklärt.
medinlive: Herr Hutter, steht Public Health auf der politischen Agenda?
Hutter: Bis vor der Epidemie wusste kaum jemand, was Public Health ist. Dieser Fachbereich wurde sichtbarer. Allerdings ist es nicht so einfach zu definieren und ich kann mich dem Eindruck nicht verwehren, dass noch immer viele nicht wissen, worum es da geht. Unser öffentliches Gesundheitswesen, ein Public Health-Bereich, kann ich seitdem ich Physikatsarzt bin und Einblick in die Szene habe, feststellen, dass der gesamte Sektor jahrelang ausgehungert wurde. Kolleg:innen sind in Pension gegangen, die Stelle wurden nicht nachbesetzt. In der Pandemiezeit kam das natürlich zum Tragen, da gerade der öffentliche Gesundheitsdienst eine wesentliche Rolle in der Epidemiebekämpfung spielt, aber personell unterbesetzt war.
Positive Signale sehe ich aber dennoch: In Wien wird das öffentliche Gesundheitswesen gerade auf neue Beine gestellt. Ich sehe Engagement und vermute daher, dass das politische Bewusstsein für Public Health steigt, insbesondere dessen Bedeutung in Krisensituationen. Das wird nicht die letzte Krise gewesen sein. Auch die Ukraine-Flüchtlingskrise hat einen Public-Health Aspekt. Die Klimakrise führt etwa zu Migrationsbewegungen und bringt damit unzählige Aufgaben. Also abgesehen vom klinischen Bereich, braucht es ein starkes öffentliches Gesundheitswesen.
medinlive: Welche Forderungen haben Sie an die Politik?
Hutter: Der Forderungskatalog ist zu lang, um ihn abzudrucken. Für jeden Umweltfaktor, den wir behandeln, haben wir eine Reihe von Forderungen und Empfehlungen. Egal ob es sich um Luftverunreinigungen, Lärm, elektromagnetische Felder, Radon oder Umweltchemikalien wie z.B. Pestizide handelt. Und bei Public Health geht es ja nicht nur darum, Forschungsergebnisse zu generieren, sondern es müssen Empfehlungen und Aktivitäten abgeleitet werden: Bitte macht das, dann wird die Bevölkerung vorsorglich geschützt. In den meisten Fällen wird das meiner Erfahrung nach dann aber nicht wirklich angenommen und auch zu selten umgesetzt.
medinlive: In einem Beitrag zu Umwelthygiene in der ÖÄZ schreiben Sie und ihre Kollegen, dass im deutschen Sprachraum einschlägige universitäre Forschung rückläufig ist. Woran machen Sie diese Beobachtung fest?
Hutter: In der Tat wurden in den letzten Jahrzehnten im deutschen Sprachraum etliche umwelthygienische Institute geschlossen, in bestehende Hygiene- oder arbeitsmedizinische Institute integriert oder stark reduziert. Umweltmedizinische Beratungs- und Untersuchungsstellen an Universitäten in Deutschland wurden geschlossen. In Österreich gab es vor zehn oder 20 Jahren umwelthygienisch sehr aktive Arbeitsgruppen an allen drei damals bestehenden medizinischen Fakultäten (Wien, Graz, Innsbruck). In Innsbruck wurde 2015 die Umweltmedizin faktisch aufgelöst. Derzeit ist nur noch unsere Abteilung in Wien so breit umweltmedizinisch aufgestellt.
medinlive: Als ein Grund für die Schließung dieser Einrichtungen ist, dass sie als Hemmnis technischen Fortschritts verstanden werden. Stimmen Sie dem zu?
Hutter: Dieses häufig pauschal vorgeschobene „Argument“ ist meist als Schutzbehauptung insbesondere von Industrie-Lobbyisten einzuordnen. Nur als Beispiel: Auch die Tabakindustrie hat über viele Jahrzehnte Zweifel an den schädlichen Wirkungen des Tabakrauches gesät. Als die Gefahr des aktiven Rauchens nicht mehr geleugnet werden konnte, wurde weiter versucht, die Risiken zu verharmlosen beziehungsweise zu behaupten, dass diese durch neue Entwicklungen (Filterzigarette etwa) gebannt seien. Ähnliche Strategien des Verharmlosens und der Denunziation unabhängiger Forschung begegnen uns in unserem Arbeitsgebiet auch in anderen Industriezweigen, wo systematisch versucht wird, die Glaubwürdigkeit unabhängiger Wissenschaft zu untergraben. Als Beispiele sind etwa die Agrarindustrie, die Chemische Industrie oder die Mobilfunk-Anbieter zu nennen.
Die Umweltmedizin stemmt sich keineswegs undifferenziert gegen jeden sogenannten Fortschritt, sondern sieht es als ihre Aufgabe, evidenzbasierte Risikoabschätzungen zu treffen und auf dieser Basis Maßnahmen für einen umsichtigen Zugang zu erarbeiten, die den allgemeinen Gesundheitsschutz zum Ziel haben und gleichzeitig praktikabel sind. Insbesondere ist es auch unsere Verantwortung, Auswirkungen auf besonders vulnerable Gruppen (z.B. Auswirkungen von Luftverunreinigungen oder Umweltchemikalien auf Kindergesundheit) zu berücksichtigen und darauf hinzuweisen. Besonders wenn es um wenig bekannte Endpunkte geht wie zum Beispiel die Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit durch Partikel. Diese werden im öffentlichen Diskurs oft vergessen oder übergangen. Daher ist mit diesen Aussagen oft weniger ein Hemmnis für tatsächlichen Fortschritt, der Gesundheit und Umwelt miteinbezieht, gemeint, sondern ein aus den Fugen geratener „Fortschritt“, bei dem alles der Gewinnmaximierung untergeordnet wird. In diesem Sinne stellt eine kritische Untersuchung allfälliger „Nebenwirkungen“ und deren Veröffentlichung tatsächlich ein Hemmnis dar.
medinlive: Generell: Wo liegen die methodischen Grenzen zur Untersuchung der Umweltmedizin?
Hutter: Im Gegensatz zur klinischen Forschung sind in der Umweltmedizin randomisierte kontrollierte Studien praktisch nicht möglich. Dies erfordert eine sehr sorgsame Planung und Interpretation der Beobachtungsstudien, die stattdessen eingesetzt werden.
medinlive: Wie geht man bei der Schadstoffanalytik vor?
Hutter: Die meisten Schadstoffe kommen nur in Spuren vor. Daher ist eine gezielte Suche notwendig, die speziell in komplexerer Matrix false Stichwort: Biomonitoring - recht aufwendig ist. Die Umweltanalytik hat in den letzten Jahren, so unser Eindruck, enorme Fortschritte gemacht – etwas was die Nachweisgrenze von Chemikalien betrifft. Aus umweltmedizinischer Sicht darf – wenn es um die Frage der gesundheitlichen Relevanz geht – nicht einfach „ins Blaue“ analysiert werden. Viele Stoffe, die zwar in der Umwelt messbar sind, sind leider nicht medizinisch beurteilbar. Daher muss eine Analyse immer in Verbindung mit einer konkreten Fragestellung durchgeführt werden.
medinlive: Welches Thema wird im Bereich der Umweltmedizin zu wenig wissenschaftlich beleuchtet?
Hutter: Nach unserer Erfahrung, auch im Rahmen eigener Studien (Bananen- und Kaffeeplantagen in Ecuador beziehungsweise Dom. Republik), sind etwa die direkten negativen Gesundheitsfolgen, die industrielle Landwirtschaft und der enorme Einsatz von Pestiziden auf Landarbeiter beispielsweise im globalen Süden haben, noch immer kaum im Fokus. Wenn überhaupt konzentriert sich der Diskurs auf potenzielle Risiken für Konsument durch Rückstände in Lebensmitteln. Die Menschen, die diese unter teils unwürdigsten Bedingungen produzieren und deren Gesundheitsschäden bleiben leider weitgehend unsichtbar.
Weitere Themenbereiche, die in der Öffentlichkeit zu selten im Zusammenhang mit Gesundheitsfolgen gesehen werden, sind Umwelt(un)gerechtigkeit und Biodiversitätsverlust sowie andere Themen wie beispielsweise Elektronikschrott, Littering, Bodenversiegelung und viele mehr.
medinlive: Werden die Auswirkungen von Umweltereignissen auf die Psyche im Public Health-Bereich vermehrt behandelt? Sehen Sie hier Bestrebung seitens der Wissenschaft, aber auch der Politik?
Hutter: Ja, das sehen wir. Generell waren umweltbezogene psychische Effekte immer Thema – Stichwort Umweltpsychologie -, bekommt aber durch die Klimakrise noch mehr Bedeutung. Schon aus der Lärmmedizin ist hinlänglich bekannt, dass es nicht nur um körperliche, sondern auch um mentale Effekte geht – von Beeinträchtigungen kognitiver Leistungsfähigkeit bis hin zu Frustrationserleben oder Ärger.
Es gibt jedenfalls Anstrengungen und Engagement diesem Zusammenhang weiterhin wissenschaftlich zu erforschen. Wie es aus politischer Sicht ist, kann ich nicht beurteilen. Man sieht z.B. bei der Corona-Pandemie, dass gerade psychosoziale Effekte weniger Aufmerksamkeit bekommen, wenn es etwa um die negativen Folgen aufgrund fehlender Sozialkontakte bei Kinder – Stichwort Schulschließungen. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass sich die Effekte des home schoolings nicht so leicht in Zahlen fassen lassen, wie etwa die täglichen Inzidenzen.
medinlive: Ist es schwierig, Ursächlichkeiten speziell in diesem Forschungsgebiet festzustellen? Die Politik braucht diese ja, um politische Entscheidungen zu rechtfertigen.
Hutter: Ja, selbstverständlich ist das schwierig. Noch dazu wenn es um die Feststellung einer Kausalität bei subtilen, langfristigen Einflüssen aus der Umwelt geht. So fehlt fast immer eine Spezifität von Symptomen, die auf einen bestimmten Schadstoff hinweisen. Auch die retrospektive Erhebung einer Belastung ist oft nicht genau möglich. Und dann gibt’s noch die die oft langen Latenzzeiten zwischen Exposition und dem Auftreten einer Wirkung. Es ist viel Kleinarbeit und letztlich auch die Synopsis zahlreicher Forschungsergebnisse bzw. von beobachteten Zusammenhänge müssen mit Kausalitätskriterien (Bradford-Hill-Kriterien). Alles nicht so einfach wie sich das viele gerne vorstellen.
Und dann haben die Umweltthemen hat auch einen enormen gesellschaftspolitischen Bezug. Denn wenn es um Lärm, Luftschadstoffe oder Chemikalien geht bewegen wir uns in einem Spannungsfeld zwischen Lobbyorganisationen, Industrie, Politik und Wissenschaft. Nehmen wir das Beispiel Tempolimits. Dies wäre eine Maßnahme, um Luftschadstoffe, Lärm und CO2 zu vermindern. Dazu gibt es haufenweise Belege, dass dies gesundheitliche Vorteile bringt. Wenn dieses Thema allerdings zur Sprache kommt, stößt dies freilich sofort auf Gegenwind von Automobilorganisationen, diversen politischen Parteien etc.
medinlive: In dem oben genannten Beitrag zu Umwelthygiene werden Hexachlorbenzol, Mobilfunk sowie Chemotherapeutika als Beispiele für die Bandbreite umwelthygienischer Forschung angeführt. Sind dies die Schwerpunkte an der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin im Zentrum für Public Health? Nach welchen Kriterien wurden diese Themen ausgewählt und welche anderen Themen werden derzeit behandelt?
Hutter: Diese drei Beispiele wurden insbesondere gewählt, um die Breite des Fachs exemplarisch zu beleuchten. „Chemotherapeutika in der Umwelt“ war das Thema einer Studie, mit der wir befasst waren. Das Thema stellt zwar keinen Schwerpunkt der Arbeit unserer Abteilung dar, zeigt aber, wie vielschichtig unser Themenfeld ist. Mobilfunk oder allgemein elektromagnetische Felder sind seit Jahrzehnten ein Fokus unserer Abteilung. Wissenschaftlich gesehen ein äußerst komplexes und diffiziles Forschungsgebiet mit teils sehr schwierig zu interpretierenden Studienergebnissen. In der Vermittlung der Risiken erfordert es viel Erfahrung und Wissen, um in diesem Feld die richtige Balance zwischen fahrlässiger Verharmlosung durch die Industrie und den Ängsten mancher Mobilfunk-Gegner zu finden.
Mit dem Hexachlorbenzol-Skandal und seinen Folgen waren wir monatelang äußerst intensiv in verschiedenen Funktionen betraut. Es galt damals rasch, aber zugleich fundiert eine Risikoabschätzung vorzunehmen. Und das zu einer Chemikalie, die in den letzten Jahrzehnten praktisch kaum beforscht wurde. Der „Fall“ ist daher durchaus als ein Schwerpunkt der letzten Jahre zu bezeichnen, auch stellvertretend für unseren großen Schwerpunkt rund um die Erforschung der Auswirkungen von Umweltchemikalien (etwa Pestizide). Ein großer Schwerpunkt derzeit und in den letzten 15 Jahren sind Forschungen rund um die vielen und teils massiven Auswirkungen der Klimakrise auf die Gesundheit. Weitere Schwerpunkte sind unter anderen Luftverunreinigungen, Lärm, Wohnhygiene und Umweltpsychologie (siehe online).
medinlive: Wo steht man bei den Erkenntnissen hinsichtlich der Wechselbeziehungen zwischen menschlichen Aktivitäten und den Ökosystemen?
Hutter: Die Umweltmedizin beziehungsweise Umwelthygiene befasst sich weniger mit den Wechselwirkungen als vielmehr mit den Auswirkungen der „Umwelt“ auf den Menschen. Unter Umwelt verstehen wir nicht nur die vom Menschen geprägte Umwelt, für die Wechselwirkungen tatsächlich eine besondere Bedeutung haben, sondern auch die „natürliche“ Umwelt. So ist auch eine Virus-Pandemie ein Thema für die Umwelthygiene.
Dabei ist es natürlich klar, dass wir im Anthropozän angekommen sind, dass es eine „rein natürliche“ Umwelt praktisch nicht mehr gibt und anthropogene Umwelteinflüsse die größte Rolle spielen. Wir müssen daher auch die Wirkungen des Menschen auf die Umwelt mitbedenken. Diese werden aber unmittelbar vorwiegend von Ökologen, Biologen, Klimatologen et cetera untersucht. In diesem Sinn ist Umweltmedizin selbstverständlich ein sehr inter- und transdisziplinäres Fach. Aber doch auch mit fachlichen Schwerpunktsetzungen und thematischer Aufgabenverteilung. Je komplexer die betrachteten Systeme (Weltklima, einzelne Ökosysteme, Atmosphärenchemie, um nur ein paar Beispiele zu nennen), desto unsicherer wird die Datenlage und desto grobmaschiger werden die Modelle, mit denen die verschiedenen Fachdisziplinen die Wechselwirkungen studieren. In erster Näherung ist es daher sicher nicht verfehlt zu sagen, dass diese Forschung noch im Laufen ist und sich stetig verbessert. Keinesfalls ist aber daraus ableitbar, dass die wissenschaftliche Evidenz etwa hinsichtlich des globalen Temperaturanstiegs nicht ganz klar die höchste Dringlichkeit für Maßnahmen untermauert. Viele Umweltfaktoren und deren Auswirkungen auf den Menschen sind jedenfalls genügend weit erforscht, um jedenfalls entsprechende Risikoabschätzungen und vorsorgende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung abzuleiten.
medinlive: Welche Fragen sollten sich Bürger zum Thema Umweltmedizin stellen?
Hutter: Umweltmedizin ist auch eng mit dem Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen verknüpft, die elementare Voraussetzung für unsere Gesundheit sind. Daher ist es schon immer unser Anliegen, dass wir uns alle im persönlichen Umfeld überlegen, wo wir – vielleicht schon mit kleinen Änderungen, die durchaus auch Spaß machen dürfen – der eigenen Gesundheit und der Umwelt gleichzeitig etwas Gutes tun können. Wo kann ich mich vielleicht unabhängiger vom Auto machen und mich stattdessen mehr bewegen? Woher und in welcher Qualität beziehe ich meine Lebensmittel, Kleidung et cetera? Kann ich etwas vielleicht eher reparieren, als sofort etwas Neues zu kaufen? Zu all diesen Themen gibt es mittlerweile viele Plattformen für Information und kreative Initiativen, die zu Vernetzung und Austausch einladen. Und allgemein: Reduktion und etwas mehr Minimalismus in gewissen Bereichen kann durchaus befreiend sein und dabei eine Menge Geld sparen.
Der umweltmedizinische „Alltag“ sieht aus unserer langjährigen Erfahrung jedoch so aus: Die Bevölkerung stellt zumeist dann Fragen an die Umweltmedizin, wenn es einen Anlassfall gibt respektive wenn sie selbst betroffen sind. Schwerpunkte sind etwa Lärmbelästigungen aller Art, Errichtung einer Mobilfunk- Basisstation, Schimmelbefall oder andere Belastungen in Innenräumen.
Mitarbeit: Kathrin Lemmerer, Hanns Moshammer, Peter Wallner
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