„Patriarchale Belastungsstörung"

Warum psychische Gesundheit eine Frage von Herkunft und Geschlecht ist

„Patriarchale Belastungsstörung“ lautet der Titel eines neuen Sachbuchs, das die Auseinandersetzung mit der Entstehung von psychischen Erkrankungen und dem gesellschaftlichen Umgang mit diesen zum Inhalt hat. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Österreich. Autorin Beatrice Frasl schrieb das Buch nicht aus der Position einer Psychiaterin oder einer Medizinerin, sondern als Betroffene und als „Feministin und politisch denkender Mensch“.

red/Agenturen

„Mein Fokus sind die systemischen Rahmenbedingungen, an denen wir auch erkranken, und da sehen wir, dass armutsbetroffene und armutsgefährdete Menschen eher Depressionen haben oder eher Angst- und Schlafstörungen haben“, erläuterte Frasl. Ein gleiches Bild ergebe sich bei der Sicht auf die Geschlechterverhältnisse, aus denen die sozioökonomischen Verhältnissen resultieren, denn „es sind ja auch hauptsächlich Frauen, die von Armut betroffen sind“.

All dies sind keine Meinungen einer Feministin, sondern die Autorin verweist in ihrem Buch mit dem Untertitel „Geschlecht, Klasse und Psyche“ durchgehend auf wissenschaftliche Studien und Statistiken, die ihre Aussagen weiter erläutern und untermauern. Damit liefert Frasl auf rund 350 Seiten so etwas wie ein Kompendium. Und Frasl fordert im dritten von insgesamt sieben Kapiteln auch, dass psychische Erkrankungen als Produkt unserer Gesellschaft gesehen werden, anstatt sie monokausal auf hormonelle Störungen zu reduzieren, die mit Antidepressiva und anderen Psychopharmaka wieder ins Gleichgewicht gebracht werden können.

Warum aber muss eine politische Diskussion erst eingefordert werden? „Ein Kernproblem ist, dass in unserer Gesellschaft alles war mit psychischen Erkrankungen zusammenhängt, als Schwäche gesehen, aber auch mit Gefährlichkeit assoziiert wird“, lautet ihre Antwort und historisch sei das Verrücktsein auch sehr mit Weiblichkeit assoziiert. Die Geschichte der Hysterie, einer inzwischen aus der psychiatrisch-medizinischen getilgten und überwiegend Frauen zugeschriebenen Neurose, ist auch wesentlicher Teil der Geschichte der Psychologie im Ganzen.

Direkte Nachfolgediagnose zur Hysterie

Die Behandlungsformen der Hysterie im vorigen Jahrhundert, die zum Teil auch öffentlich stattfanden, zeigt die patriarchale Problematik der Vergangenheit auf - in der Gegenwart lebt sie in anderen Formen weiter: Etwa im Fall der sogenannten Borderline-Persönlichkeit, „einer interessanten Diagnose, wo es Kritik aus verschiedenen Ecken gibt“, erklärte Frasl. Für feministische Psychiatriekritikerinnen gilt sie als direkte Nachfolgediagnose zur Hysterie, weil sie einerseits alles zusammenfasst, was nicht in andere Diagnosen passe, „aber oft auch unbequemen Frauen übergestülpt wird“.

Einen Ansatz, den sie nicht zur Gänze teilen würde, jedoch weist Frasl darauf hin, dass Borderline oft bei Frauen diagnostiziert werde, die „eine sehr komplexe Traumatisierungsgeschichte haben“, da könne sich die Frage stellen, warum dann nicht auch eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wird? Die Antwort lautet: Weil es bisher in Europa gar nicht möglich war, denn im Gegensatz zu den USA kam die „komplexe posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) ICD-11“ erst 2022 als Diagnose überhaupt infrage.

Befreite Männer, die schwach sein dürfen

Frasl will sich mit ihrem Buch gerade wegen ihrer Kritik an einer patriarchal dominierten Gesellschaft auch an männliche Leser wenden: „Ich habe zwar Frauen im Fokus, aber ebenso wichtig ist aufzuzeigen, wie patriarchale Verhältnisse auch Männer schädigen und verletzen können“. Auch hier hat die Autorin Zahlen parat, demnach versterben Männer in Österreich etwa dreimal so häufig an Suizid wie Frauen. „Das weist darauf hin, dass das patriarchale Ideal von Männlichkeit, vom stark und autonom zu sein, statt schwach und hilfesuchend, dazu führt, dass Männer oft nicht behandelt werden“ - oder, dass Alkohol als „männliche Kulturtechnik“ zur Selbsttherapie herangezogen wird, auch hier liege der Konsum höher als bei Frauen.

„Das verweist darauf, dass vieles an Angst, Depressivität, Krisen und psychischem Leid bei Männern nicht gesehen, nicht behandelt und abgefangen wird“, argumentiert Frasl - ein Ende des Patriarchats würde daher die Männer gleichfalls befreien, indem sie etwa schwach sein dürften.