Die demografische Entwicklung mit dem Altwerden der Baby-Boomer und zuletzt die Corona-Pandemie haben offenbar zu einer starken Verschärfung von Engpässen, Personalproblemen und strukturellen Schwierigkeiten geführt. Ein Beispiel sind Kinder- und Jugendgesundheit, und hier speziell die Versorgung im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie, sagte der Leiter der diesbezüglichen Wiener Universitätsklinik, Paul Plener: „Im Vergleich zu vor der Pandemie haben wir im vergangenen Jahr dreimal so viele Patienten nach Suizidversuchen zu versorgen gehabt.“
Das Gesundheitswesen, so der Experte, müsse umfassend reagieren: Ausbau der ambulanten psychiatrischen Versorgung, mehr auf Krankenkosten bezahlte Psychotherapieangebote für Kinder- und Jugendliche und schließlich: eine Verdoppelung der Zahl der stationären Betten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, um in Österreich auf einen „europäischen Standard“ zu kommen.
Markus Wieser, Präsident der NÖ Arbeiterkammer, verwies auf die Bedeutung der Rehabilitation im Bereich Kinder- und Jugendgesundheit. Hier hätte es Fortschritte gegeben. Doch jetzt müsse man Eltern und Angehörigen von Kindern und Jugendlichen in diesen Einrichtungen durch bezahlte Freistellungen die Möglichkeit geben, diese auch in der Rehabilitation zu begleiten.
Wieser forderte die Einrichtung eines „Staatssekretariates für Kinder- und Jugendgesundheit im Gesundheitsministerium“ und eine „Kinder- und Jugendgesundheits-Milliarde“ an Budgetmitteln. Schließlich müsse man für die Angehörigen von kranken Kindern und Jugendlichen mit hohem Betreuungsaufwand auch den Begriff von „Sekundärpatienten“ als Folge der Belastungen schaffen und ihnen helfen.
Marhold für mehr „Ambulantisierung“
Wesentlich, so die Experten, sei auch eine Neustrukturierung in der Patientenversorgung vom niedergelassenen bis zum stationären Bereich. Karl Lehner, Geschäftsführer der OÖ Gesundheitsholding: „Die Spitäler sind die Spitze der Pyramide des Gesundheitswesens. Wir müssen wesentlich mehr dafür sorgen, dass wir die Sektorengrenzen im Gesundheitswesen überschreiten. Wir haben Betonwände zwischen den Sektoren.“ Man könnte sich zum Beispiel viele Kosten und Ineffizienzen ersparen, wenn Spitalsambulanzen und niedergelassene Medizin aus einem Topf finanziert, geplant und gesteuert würden.
Drastisch formulierte den Reformbedarf Wilhelm Marhold, ehemals Chef der städtischen Wiener Spitäler: „Es vergeht kein Tag, an dem nicht Mängel im österreichischen Spitalswesen in den Medien aufscheinen. Es macht keinen Sinn, mit dem 'Flammenwerfer' herumzugehen und einmal die Ärzteschaft, einmal die Krankenkassen anzugreifen. (...) Wenn wir so weitermachen wie bisher, fährt das System an die Wand."
Für Marhold muss es dringend zu einer „Ambulantisierung“ eines großen Teils der tagesklinisch durchführbaren medizinischen Leistungen kommen. Der Fortschritt von Medizin und Technologie sei dringend in den Strukturen der Krankenhäuser abzubilden. Das erlaube auch ein Arbeitsumfeld, das den aktuellen Erwartungen von Ärzteschaft und Pflegekräften entspreche. „Wir müssen vom Bettendenken ins Funktionsdenken kommen“, forderte der Experte.
Die aktuellen Schwierigkeiten in der Arzneimittelversorgung schilderte Erwin Rebhandl, langjähriger Hausarzt in Oberösterreich und Gründer eines Primärversorgungszentrums: „Gerade in den vergangenen zwei, drei Wochen haben wir viele Streptokokken-Infektionen gehabt.“ Breitband-Antibiotika (Amoxicillin/Clavulansäure) seien nur noch via magistraler Zubereitung in den Apotheken zur Verfügung gestanden. Das eigentlich optimal passende Antibiotikum, Penicillin V, hätte es nicht mehr gegeben. Praevenire-Vorstandsmitglied und Linzer Krankenhausapothekerin Gunda Gittler forderte in diesem Zusammenhang gesetzlich verpflichtende Lagerhaltung: „Wir haben im intramuralen Bereich (Krankenhäuser; Anm.) gesetzlich verpflichtend Lager für 14 Tage zu halten. Unsere Vorlieferanten haben keine gesetzliche Verpflichtung.“
Zahlreiche Forderungen an die Politik
Alexander Biach, Ex-Chef des damaligen Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger und nunmehr Direktor-Stellvertreter der Wirtschaftskammer Wien, verwies auf die unterschiedliche Kostenentwicklung in den einzelnen Sektoren des Gesundheitswesens. So seien die Ausgaben für die öffentlichen und die Ordensspitäler von 2012 bis 2021 um 41 Prozent gestiegen, die Aufwendungen für die Spitalsambulanzen aber um 105 Prozent, die Honorarkosten für die niedergelassenen Ärzte im Vergleich dazu um 48 Prozent. Es sollte also sinnvoll sein, Ambulanzen und niedergelassenen Bereich gemeinsam zu finanzieren und zu planen, um ein Herumschieben von Patienten und Leistungen wegen der unterschiedlichen Kostenträger (Spitäler: primär Bundesländer; niedergelassener Bereich: primär Krankenkassen) in Zukunft zu verhindern.
Das Jahrbuch der Praevenire-Initiative unter Ex-Hauptverband-Chef und Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) für 2022/2023 enthält zahlreiche Forderungen an die Politik. Dazu gehören unter anderem: durchgehende Digitalisierung des Gesundheitswesens, mehr Vorsorge und Früherkennung, Neuordnung der Berufsrechte der Gesundheitsberufe, Konzentrierung von medizinischen Leistungen im Rahmen der Spezialisierung und Ausbau der Disease-Management-Programme für chronisch Kranke.
„Die Spitäler werden sich massiv ändern müssen. Wir werden es nicht schaffen, eine (Gesundheits-; Anm.) Finanzierung aus einem Topf sicherzustellen“, sagte Schelling zu den laufenden Finanzausgleichsverhandlungen. Man sollte aber wenigstens einen Finanzierungstopf für niedergelassene Ärzte (inklusive Primärversorgungseinheiten etc.) und Ambulanzen schaffen.