medinlive: Der Begriff der somatoformen Störungen war für mich persönlich anfangs verwirrend, weil ich das Thema unter dem Begriff psychosomatische Störungen kenne. Was ist hier die ganz genaue Definition laut ICD und wie würden Sie es mit Ihren Erfahrungen als Arzt beschreiben?
Michael Bach: Ganz konkret und kurz zusammengefasst sind das Körperbeschwerden ohne ursächliche organische Ursache.
medinlive: Was kann man sich unter diesen Formen konkret vorstellen?
Bach: Am häufigsten sind es diffuse, chronische Schmerzen, für die es eben keine körperlichen Ursachen gibt. Am zweithäufigsten sind Magen/Darmschmerzen, ein Reizdarmsyndrom oder Reizmagen und Verdauungsprobleme. Es können aber auch Herzbeschwerden mit Herzrasen, Schwindel oder Atemprobleme auftreten. Auch gynäkologische Probleme oder Probleme beim Harnlassen kommen vor. Grundsätzlich jedes Körpersymptom kann im Rahmen einer somatoformen Störung auftreten, das Wesentliche ist, dass es eben keine ausreichende körperliche Erklärung dafür gibt.
medinlive: Was ist der Unterschied zwischen funktionellen und somatoformen oder psychosomatischen Störungen?
Bach: Inhaltlich ist es das Gleiche, es wird nur von unterschiedlichen Fachbereichen anders benannt. Psychiater nennen es somatoforme Störungen, die Internisten benennen es zum Beispiel als einen Reizdarm und die Anästhesisten definieren chronische Schmerzen. Jede Berufsgruppe hat eine eigene Terminologie.
medinlive: Schauen wir uns die Aufteilung nach Geschlecht und Alter an: Gefühlt haben mehr Frauen somatoforme Störungen, ist das auch den Fakten entsprechend so?
Bach: Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass Frauen ungefähr fünfmal häufiger davon betroffen sind, insofern stimmt das.
medinlive: Was sind die Ursachen dafür?
Bach: Vielleicht darf ich hier kurz ausholen: Man geht davon aus, dass somatoforme Störungen eine Stressverarbeitungsstörung sind. Der Körper reagiert stärker, ist stärker alarmiert als es üblicherweise der Fall ist. Diese Menschen haben dann üblicherweise eine Belastung, bei der der Körper auf Alarm schaltet und dieser reagiert dann mit heftigen Beschwerden und Überempfindlichkeit.
Relativ häufig ist bei somatoformen Störungen ein Trauma im Hintergrund. Ungefähr 50 Prozent aller Menschen mit einer somatoformen Störung haben eine traumatische Erfahrung und Traumatisierungen kommen bei Frauen häufiger vor als bei Männern. Das könnte eine Erklärung sein.
Eine zweite Erklärung könnte sein, dass Frauen mehr Multitaskingfähigkeiten brauchen. Das heißt, mit den Mehrfachbelastungen aus Beruf, Partnerschaft, Kindererziehung und vielleicht auch Pflege kommt man unter Umständen schneller in ein Überlastungsgeschehen hinein, wo der Körper stärker reagiert.
Die dritte Erklärung ist, dass Hormone hineinspielen. Auch hier sind Frauen stärker betroffen als Männer.
medinlive: Nimmt die Thematik dann in den weiblichen Wechseljahren zu?
Bach: Das kann man so nicht sagen. Der Altersgipfel liegt zwischen 40 und 60 Jahren, grundsätzlich kann eine somatoforme Störung aber in allen Altersgruppen auftauchen. Denken Sie an die typischen Bauchschmerzen bei Kindern vor Aufregung. Das sind stressbedingte Körperreaktionen und eigentlich im weitesten Sinne ja auch somatoforme Störungen. Typischerweise gehen ja auch alte Menschen oft zur Ärztin oder zum Arzt, die dann Verdauungsprobleme oder diffuse Schmerzen haben.
medinlive: Wie findet man als Ärztin, als Arzt heraus, ob tatsächlich eine somatoforme Störung vorliegt? Wie sieht der Diagnoseweg aus?
Bach: Ungefähr 20 bis 40 Prozent aller Menschen, die zum Hausarzt gehen, leiden unter somatoformen Störungen, also ungefähr jeder dritte, was ein relativ hoher Prozentsatz ist. In der Allgemeinbevölkerung entspricht das 10 bis 20 Prozent, je nachdem welche Stichproben man anschaut. Es gibt außerdem einen Geschlechtsbias: Frauen gehen viel häufiger zu Ärzt:innen, während Männer das eher nicht machen. Auch wenn sie schon Probleme haben.
medinlive: Wie äußern sich dann Verdachtsmomente?
Bach: Der erste Verdachtsmoment bei einer seriösen Abklärung ist, wenn man kein organisches Korrelat findet. Und zweitens gibt es eine Diskrepanz zwischen Körperbeschwerden und dem Beeinträchtigungsgrad.
Das bedeutet, die Patient:innen sind völlig unfähig zu arbeiten oder sich mit Freunden zu treffen und fühlen sich subjektiv massiv beeinträchtigt, obwohl der organische Befund nicht so gravierend scheint. Ein drittes Warnzeichen ist das so genannte doctor shopping. Patient:innen, die davon berichten, dass sie jede Woche zu anderen Ärzt:innen gehen: Hier sollten die Alarmglocken läuten.
Auch Menschen mit chronischen Erkrankungen oder „klassische“ Schmerzpatienten gehen häufig zu Ärzt:innen, aber diese Menschen gehen immer zu den selben Ärzt:innen. Menschen mit somatoformen Störungen laufen sprichwörtlich von Pontius zu Pilatus und suchen dauernd unterschiedliche Ärzt:innen auf.
medinlive: Was sollte die Anamnese noch umfassen?
Bach: Man sollte neben einer körpermedizinischen Abklärung auch so etwas wie eine psychosomatische Anamnese erheben. Fragen, ob es irgendwelche Belastungen in der derzeitigen Lebensphase gibt, in der sich die Patient:innen gerade befinden. Oder wie sich das auswirkt, wenn es einen stressigen Tag gibt. Ob bestimmte Beschwerden dann schlimmer werden. Auch Screeningfragen in Richtung Angststörung und Depression sollten gestellt werden.
medinlive: Wie sieht der weitere Behandlungsweg aus, wenn die Diagnose somatoforme Störung gestellt ist? Und wie steht es um die Krankheitseinsicht?
Bach: Diese ist naturgemäß nicht sehr hoch, weil die Patient:innen ja Körperbeschwerden haben und zunächst einmal davon ausgehen, dass diese auch körperliche Ursachen haben müssen. Jemand, der wegen Angstzuständen oder einer Depression ärztliche Hilfe sucht, hat die psychische Thematik natürlich schon mehr im Hinterkopf. Ich helfe mir in solchen Situationen mit Stressmodellen. Man kann den Menschen erklären, dass jeder Mensch unterschiedlich belastbar ist, und dass es eben Menschen gibt, die bei Belastungen schlicht stärker mit ihrem Körper reagieren.
Was wir somatoforme Störungen nennen, ist also keine Einbildung, sondern eine andere Form von Stressverarbeitung. Damit versuche ich es auch ein Stück weit zu entpathologisieren. Und es gibt ja auch eine gesunde Form von Somatisierung, denken Sie an die Schmetterlinge im Bauch bei Frischverliebten. Auch etwas wie der heftige Schreck, den man erlebt, wenn man zum Beispiel fast einen Autounfall hat, ist eine somatoforme Reaktion.
medinlive: Welche Therapieansätze gibt es denn momentan, was ist am Zielführendsten?
Bach: Die Therapie der Wahl ist die Psychotherapie. Es gibt kein anerkanntes Medikament, das hier hilft. Bei chronischen Schmerzen, auch ohne Depressionen, bewähren sich teilweise Antidepressiva. Typischerweise sind das die dual wirksamen Antidepressiva, die sowohl das Serotonin- als auch das Noradrenalinsystem beeinflussen. Die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, also SSRI, sind weniger gut geeignet.
medinlive: Warum ist das so?
Bach: Gerade in der Schmerzverarbeitung wissen wir, dass es zwei Bahnen gibt, die vom Gehirn zum Rückenmark ziehen und Schmerzimpulse sozusagen abfedern können. Eine Bahn wird über Serotonin gesteuert, die andere über Noradrenalin, und wenn ich beide Bahnen mit einem Medikament stimuliere, ist das natürlich effizienter.
medinlive: Welche Psychotherapie bietet sich denn an?
Bach: Es gibt in Österreich 23 anerkannte Psychotherapieschulen, allerdings gibt es nur drei Schulen, die bei derartigen Körperbeschwerden evidenzbasierte Belege haben. Das bedeutet keinesfalls, dass alle anderen Methoden schlecht oder unwirksam wären, aber der wissenschaftliche Nachweis wurde noch nicht erbracht.
medinlive: Welche drei Schulen sind denn evidenzbasiert?
Bach: Dazu gehören die Kognitive Verhaltenstherapie, die Psychodynamische Psychotherapie aus der tiefenpsychologischen Tradition und die Hypnotherapie. Man zielt dabei auf zwei Ebenen: Einerseits vermittelt man Techniken, die den Patient:innen helfen, besser mit Stress umzugehen und den Körper damit direkt zu beeinflussen. Konkret sind das Körperwahrnehmungs-, Atem- oder Entspannungstechniken, also direkt symptombezogene Interventionen.
Und dann geht es um den Blick hinter die Kulissen: Zu überlegen, warum jemand überhaupt übersensibel reagiert auf Stress. Vielfach stoßen wir dabei auf frühe Traumatisierungen und Belastungssituationen bei den Patient:innen.
medinlive: Was wären hier zum Beispiel häufige Traumata?
Bach: Dazu zählen sexueller Missbrauch und körperliche Gewalterfahrung. Auch Kriegserlebnisse zählen dazu, deswegen haben auch überproportional viele Menschen mit Migrationshintergrund, die aus Kriegsgebieten stammen, solche Körperreaktionen.
medinlive: Somatoforme Störungen sind meinem Eindruck nach lange Zeit nicht besonders ernst genommen worden. Wie hat sich der Zugang zu dieser Thematik Ihrer Erfahrung nach entwickelt?
Bach: Ehrlicherweise muss man sagen, dass das Konzept und der Begriff der somatoformen Störungen an sich schon abwertend sind. Deswegen wird dieser Begriff auch immer weniger verwendet. Wenn man sich das neue Diagnosesystem etwa der Amerikaner ansieht, findet man die Definition der „somatoformen Störung“ gar nicht mehr in deren DSM-5. Das ICD-11 (WHO-Klassifikationssystem für Krankheiten, Anm. d. Red.) wird dem folgen.
Wörtlich übersetzt bedeutet somatoform, etwas sieht so aus, als wäre es körperlich bedingt, dem ist aber nicht so. Damit wird den Patient:innen eine Negativdefinition vermittelt, oft mit dem Unterton „Sie bilden sich das ein“. Und das ist extrem stigmatisierend. In der neuen Konzeption des DSM-5 ist nun die Rede von einer Körperbelastungsstörung oder einer somatischen Belastungsstörung. Das Ganze wird damit in die Nähe einer Belastungsstörung gerückt.
Es gibt Menschen, die hier mit Angst, Depressionen oder Schlafstörungen reagieren, und es gibt Menschen, die mit ihrem Körper darauf reagieren. Ich denke, mit dieser neuen Terminologie kommt man der Sache näher und die Betroffenen können die Diagnose besser annehmen.
medinlive: Alleine schon der Begriff „Störung“ klingt ja sprachlich sehr hart.
Bach: Ja, im Deutschen auf jeden Fall. Im Englischen wird der Begriff „disorder“ verwendet, was bedeutet, dass etwas nicht ganz in Ordnung ist. Das klingt gemäßigter. Ich erkläre meinen Patient:innen das manchmal auch mit einem Vergleich wie bei einer schlechten Netzverbindung. Das bedeutet auch keineswegs ein kaputtes Telefon, sondern schlicht eine Funkstörung. Und so ist es bei der Verbindung zwischen Psyche und Körper auch. Sie funktioniert eben momentan nicht optimal.
medinlive: Chronifizieren sich somatoforme Störungen eigentlich häufiger und sind schwieriger in der Behandlung als andere rein physisch bedingte Störungen?
Bach: Somatoforme Störungen sind schon per se chronische Störungen, weil sie mindestens sechs Monate vorliegen müssen, damit man überhaupt diese Diagnose bekommt. Das bedeutet nicht „unheilbar“ oder „therapieresistent“. Chronisch bedeutet nur, dass es unter Umständen lange dauert und nicht von selbst verschwindet. Somatoforme Störungen man kann heute gut behandeln, viele Patient:innen sind beschwerdefrei. Aber es kann ein durchaus mühsamer Weg dorthin sein. Die Behandlung ist recht komplex und die Erkrankung lässt sich auch nicht innerhalb weniger Monate stabilisieren. Sie verlangt viel Commitment und Engagement der Patient:innen. Unser Ziel ist es, den Patient:innen Zusammenhänge zu vermitteln und ihnen Wege aufzuzeigen, diese Erkrankung nicht wehrlos hinnehmen zu müssen.
medinlive: Ich bedanke mich für das Gespräch!
Zur Person
Michael Bach ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin (ÖÄK). Er ist bis Ende des Jahres Ärztlicher Leiter der Vortuna Gesundheitsresort GmbH in Bad Leonfelden und wird ab 2023 in Wien als freier Arzt in der Niederlassung arbeiten. Weiters ist er Psychotherapeut mit Ausrichtung Verhaltenstherapie (ÖGVT) sowie Lehrtherapeut der ÖGVT (Österreichische Gesellschaft für Verhaltenstherapie) und der ÖÄK (Österreichische Ärztekammer). In dieser Funktion leitet er seit mehreren Jahren in Wien ein Aufbaucurriculum für Verhaltenstherapie für Ärzt:innen in Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. Im Rahmen dieser Curricula zählen zu seinen Schwerpunktthemen die Psychotherapie von somatoformen Störungen, Angst-, Zwangs- und Schlafstörungen sowie Gruppentherapie-Konzepte. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt in den Bereichen Psychotherapie und Psychosomatik. In letzterem hat er sich auch 1996 an der Medizinischen Universität Wien habilitiert.