Referat Schulärzt*innen

„Prävention hat in Österreich keinen hohen Stellenwert“

Sie sind die erste Anlaufstelle für die gesundheitlichen Probleme von Kindern und Jugendlichen – und dabei selbst oft angeschlagen: Schulärztinnen - und ärzte fehlen vielerorts. Doch auch an der Wertschätzung ihres Berufes mangelt es häufig. Wie der Beruf aufgewertet werden kann und was ihn erfüllend macht, erläutert die Leiterin des Schulärzt*innen-Referats Margit Saßhofer.

Claudia Tschabuschnig
Kinder Schulklasse
Dass sich Eltern ausreichend um die Gesundheit ihrer Kinder kümmern, ist nicht selbstverständlich. Schulärzte bieten einen niederschwelligen Zugang zur Gesundheitsvorsorge für alle Schüler,
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„Generell wünsche ich mir für Schulärztinnen und -ärzte, dass sie von der Politik mehr gesehen werden und dass erkannt wird, dass sie einen großen Beitrag zur Gesunderhaltung der gesamten Bevölkerung leisten.“

medinlive: Frau Saßhofer, wie erklären Sie sich den Mangel an Schulärztinnen - und ärzten?

Margit Saßhofer: Generell muss man hier zwischen Schulärztinnen - und ärzten in Bundes- und Pflichtschulen unterscheiden. In Bundeschulen ist Zeit und Aufgabenstellung klar geregelt, da es dort einen Dienstvertrag gibt und pro 60 Schülerinnen und Schülern eine Wochenstunde vorgesehen ist. Das wird auch eingehalten. Anders sieht das in den Pflichtschulen aus. Dort sind Schulerhalter, meist die Gemeinden, zuständig. Pro 100 Schülerinnen und Schülern ist dort eine Wochenstunde vorgesehen. Dies wird in Bundesländern oft nicht eingehalten. Zudem ist die Bezahlung in Pflichtschulen schlechter. Das ist ein Grund, warum viele Kolleginnen und Kollegen von der Gemeinde zum Bund wechseln, was den Mangel noch verschärft. Auch ist der Schularztberuf keiner, in dem man tolle Operationen macht, aber das Tätigkeitsfeld, die Früherkennung und Therapieeinleitung, ist trotzdem ansprechend.

medinlive: Welche Herausforderungen und Trends sehen Sie bei den Schülerinnen und Schülern?

Saßhofer: Die Schülerinnen und Schüler sind gestresst. Psychische Erkrankungen haben massiv zugenommen, vor allem Panik- und Angststörungen – bis hin zu depressiven Verstimmungen. Hier braucht es mehr schulpsychologische Betreuung und Schulsozialarbeit. Da würde ich mir mehr Stunden in den Pflichtschulen für Schulärztinnen- und ärzte als auch für Schulpsychologinnen und -psychologen wünschen. Was Essstörungen betrifft, gibt es meinen Beobachtungen zufolge mehr adipöse Kinder als vor 30 Jahren. Damals war auch Karies ein großes Thema, das sieht man heute weniger. Stark ist auch die Zahl der Kinder mit Diabetes gestiegen. Dadurch, dass es mehr Fälle gibt, sind Lehrerinnen und Lehrer auch routinierter im Umgang mit diabetischen Kindern. Auch die Betreuung von autistischen Kindern oder Kindern mit ADHS hat sich deutlich verbessert. Was auch ein Thema ist, sind Kinder und Jugendliche, die zuhause Angehörige betreuen. Pflegende Kinder und Jugendliche halten dies häufig geheim, wodurch Lehrkräfte nicht ausreichend auf ihre besonderen Umstände eingehen können.

medinlive: Wo liegt der Fokus Ihrer Arbeit im Schulärzt*innen-Referat?

Saßhofer: Es wird derzeit an einem österreichweiten Schularztprogramm gearbeitet, das eine elektronische Dokumentation ermöglicht. Das Programm entsteht in Kooperation mit dem Unterrichts- und Gesundheitsministerium. Damit sollen Daten eingegeben und anonym ausgewertet werden können. So können wir mit Zahlen festmachen, wie es unseren Schülerinnen und Schülern geht und gleichzeitig nachweisen, wie viel wir arbeiten. Man kann dann konkret sagen, ob etwa die Kurzsichtigkeit zunimmt und ist nicht, wie jetzt, auf Schätzungen angewiesen. Mit den erhobenen Daten könnte man dann auch Druck auf die Politik ausüben, sodass diese auf negative Entwicklungen reagiert. Im Zuge des Programms soll auch eine Eintragung in den elektronischen Impfpass möglich sein. Ein anderes wichtiges Thema ist die Vernetzung mit anderen Berufsgruppen, Fachbereichen, Politik, aber auch Fachgesellschaften wie der GSÖ, der Gesellschaft der Schulärzt:innen Österreichs oder der EUSUHM, dem europäischen Pendant.

medinlive: Wo liegen die Mängel im Schulärztewesen?

Saßhofer: Geht man nach den Berichten des Rechnungshofes sind wir „unser Geld wert“. Bisher wurde den Schulärztinnen und -ärzten immer eine gute Kosten-Nutzen-Rechnung attestiert. Die Mängel, die angeführt werden, kommen meist von oben. Da geht es meist um Organisatorisches: Fehlende Computerprogramme oder die fehlende standardisierte Dokumentation. Woran das Schulärztewesen generell leidet ist, dass Prävention in Österreich keinen hohen Stellenwert hat. In anderen Ländern wird in diesem Bereich mehr Geld gesteckt. Da arbeiten Ärztinnen und Ärzte auch in der Forschung und genießen mehr Prestige. Generell wünsche ich mir für Schulärztinnen und -ärzte, dass sie von der Politik mehr gesehen werden und dass erkannt wird, dass sie einen großen Beitrag zur Gesunderhaltung der gesamten Bevölkerung leisten. 

medinlive: Ein Kritikpunkt am Schulärztewesen ist, dass das System veraltet ist und nicht den aktuellen Anforderungen entspricht. Wie sehen Sie das?

Saßhofer: Derzeit ist das Prozedere eine jährliche Untersuchung von Kopf bis Fuß. Hier könnte man schon überlegen, ob man Schwerpunkte setzt, sich auf gewisse Bereiche fokussiert, wie etwa die Wirbelsäule. Etwas, dass meiner Ansicht nach, nicht mehr notwendig ist, ist der Hörtest. Einfach, weil man ohne schalldichte Kammer und passender Ausstattung keinen validen Hörtest durchführen kann. Woran man jedenfalls feilen könnte, ist die Beratung, gerade im Hinblick auf psychische Probleme. Generell würde ich mir mehr Unterrichtsstunden für Schülerinnen und Schüler wünschen, um die Gesundheitskompetenz zu schulen.

medinlive: Auch gibt es Rufe die Schuluntersuchungen komplett abzuschaffen, unter anderem, da es ja Kinderärztinnen - und ärzte gibt. Was sagen sie zu dieser Meinung?

Saßhofer: Wir nehmen den Kinderärztinnen und -ärzten ja nichts weg, sondern wir schicken die Kinder oft weiter. Was wir aber machen können, ist Kinder beobachten bei einem Screening, das niederschwellig ist, bei dem jedes Kind drankommt und bei dem sich die Eltern nicht kümmern müssen. Wir wissen, dass nur wenige Kinder eine jährliche Routineuntersuchung beim Kinderarzt machen. Wir wollen aber auch die sozial schwächeren Gruppen erwischen und damit die Kinder, um die sich nicht so viel gekümmert wird. Manchmal sehen wir auch Misshandlungen oder Vernachlässigungen, dann kann man sofort einschreiten oder gemeinsam mit Lehrkräften dies weiter beobachten.

Wenn wir einen internationalen Vergleich anstellen, sehen wir viele unterschiedliche Schulgesundheitssysteme, deren Output insgesamt nicht besser oder schlechter ist. So gibt es etwa „School Nurses“, etwa in den Niederlanden, die zunächst untersuchen, bevor eine Schulärztin oder -arzt schwerpunktmäßig zum Einsatz kommt. Es gibt externe Zentren, in die Schülerinnen und Schüler gehen. In Finnland ist der schulärztliche Dienst mit dem elektronischen Gesundheitssystem, äquivalent zu unserer ELGA, verknüpft. Ich habe gehört, dass dies sehr positiv gesehen wird.

Auf der jährlichen Schulärztetagung am 20 Oktober 2023 im Austria Trend Hotel - Parkhotel Schönbrunn kamen einige Themen zur Sprache, ­­die im schulärztlichen Alltag herausfordern können, darunter das Cyber-Mobbing. ­­­­Virtuell Gemobbte reagieren nach jüngsten Untersuchungen stärker traumatisiert als Mobbingopfer im echten Leben. Mobbing-Attacken können ein Opfer bis in den Suizid treiben. Wegen der permanenten Verfügbarkeit der Online-Kommunikation sind die Auswirkungen zudem verheerender. Gruppenchats sind ein Nährboden für Vorfälle. Vieles, dass über soziale Netzwerke etwa in der Klassengruppe stattfindet, spielt dann in den Schulalltag hinein. Interventionen, wie Handyverbote in der Schule, werden häufig von Eltern blockiert. Die Ombudsstelle der EU-Initiative Saferinternet.at kann nach Meldung von Betroffenen die Löschung von Inhalten veranlassen.

Auch das Thema Transgender rückt mehr in den Fokus von Kindern und Jugendlichen. Besonders die Zahl der Transgenderjungen, also Mädchen, die sich nicht als solche identifizieren, würde steigen. Viele von ihnen leiden auch an psychischen Problemen. Herausfordernd ist die Diagnose von Geschlechtsdysphorie besonders bei neurodivergenten Jugendlichen, wie etwa aus dem Autismus-Spektrum. Generell gebe es keine klare Antwort darauf wie Schulen „richtig“ mit der Transgender-Thematik umgehen sollten. Wichtig sei es Kinder und Jugendliche ernst zu nehmen, wenn sie sich in ihrer Geschlechtsidentität nicht richtig zugeordnet fühlen.

Margit Saßhofer
Margit Saßhofer ist die Leiterin des Schulärzt*innen-Referat und seit 1994 als Schulärztin tätig. Sie ist Allgemeinmedizinerin mit Zusatzausbildungen in Arbeitsmedizin und Umweltmedizin sowie Mediatorin.
Fotograf: Stephan Huger
„Wir wollen auch die sozial schwächeren Gruppen erwischen und damit die Kinder, um die sich nicht so viel gekümmert wird. Manchmal sehen wir auch Misshandlungen oder Vernachlässigungen, dann kann man sofort einschreiten oder gemeinsam mit Lehrkräften dies weiter beobachten.“
„Die Schülerinnen und Schüler sind gestresst. Psychische Erkrankungen haben massiv zugenommen, vor allem Panik- und Angststörungen – bis hin zu depressiven Verstimmungen.“